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Kultur und Wissen
David Foster Wallace, später
Über unendlichen Spaß
Von Gerrit Wustmann

Am 12. September 2008 – heute vor einem Jahr – starb David Foster Wallace. Er nutze eine kurze Abwesenheit seiner Frau und erhängte sich, nachdem er seine Antidepressiva abgesetzt hatte, um wieder schreiben zu können. Dieser Tage erschien sein in den USA bereits 1996 veröffentlichtes Monumentalwerk „Unendlicher Spaß“ (Infinite Jest) auf Deutsch – und befördert seinen Autor posthum noch einmal in den Literaturolymp.

„Unendlicher Spaß“ ist schon rein äußerlich ehrfurchtgebietend. Ein Klotz von fast 1600 Seiten, rund 150 davon kleingedruckte Fußnoten, im Hintergrund hallen die sechs Jahre Übersetzungsarbeit Ulrich Blumenbachs, Vergleiche mit James Joyce, wahnwitzige Sprachakrobatik und nicht zuletzt die verblüffende Tatsache, dass das Buch, erschienen am 24. August 2009, in den letzten zwei Wochen deutschlandweit vergriffen war. Mit diesem Erfolg hatte man bei Kiepenheuer & Witsch in Köln nicht gerechnet. Hastig musste die zweite Auflage gedruckt werden, um die Flut der Anfragen bewältigen zu können. Ein Buch von gigantischem Umfang, das als schwer lesbar und noch schwerer verdaulich gilt, wird auf Anhieb zum Bestseller. Am Tag der Veröffentlichung wurde es in allen großen Feuilletons besprochen. Ach was, nicht besprochen – geehrt. Geheiligt. Da fielen vereinzelte kritische Untertöne kaum mehr ins Gewicht.

Der unendliche Spaß des Titels, man ahnt es, ist natürlich keiner. Er ist der ewige Gang durch die Höllenkreise einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft, die an ihrer eigenen Nichtigkeit längst zugrunde gegangen ist, ohne es zu merken. Politische Ideologien sind der Müllhaufen der Geschichte, der Mensch nur mehr ein entfremdetes Etwas, in der konsumistischen Triebhaftigkeit ein zu Tode individualisiertes Herdentier, das den Rausch braucht um jeden Preis. Wallace selbst war ein Drogenflüchtiger aus der unerträglichen Realität, ein Sozialphobiker, der die Menschen immer mit einer grenzenlosen Ratlosigkeit beobachtete, die der mitunter leicht angewiderten Faszination nicht entbehrte, die ein Mensch in einem Zoo zeigt, der durch die Gitterstäbe eine fremde, eine zu fremde Art beobachtet. Und so handelt sein Roman von allem und von nichts. Er ist ebenso düsteres Charakterbild wie umfassendes Gesellschaftsportrait wie tiefschwarze Utopie. In Wallace Utopia werden die Jahre nicht mehr gezählt, sondern nach Produkten benannt. Das Buch beginnt im „Jahr des Glad-Müllsacks“ und setzt sich fort im „Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche“. Bezeichnenderweise bekleidet der glänzende Ironiker DFW – wie seine Fans ihn nennen – die Freiheitsstatue mit einer Windel. Wallace’ Utopia spielt im Jetzt.

„Ich befinde mich in einem Büro, umgeben von Körpern und Köpfen“, so steigt der Protagonist Hal Incandenza, der von allen Protagonisten die meisten biographischen Ähnlichkeiten mit seinem Schöpfer aufweist, in seine Geschichte ein, die nur eine von vielen ist. Die Charakterlosigkeit von Büromenschen ist nur eines von unzählbaren Bildern, eine von unzählbaren Geschichten, die DFW erzählt, und sie bleibt, wie auch alle anderen, uneinseitig. Wallace beobachtet, beleuchtet, verschattet, dreht, wendet, stülpt über und befreit seine Inhalte wie seine Worte, und die sind ebenso wenig absurd, sondern ebenso sehr gezielt, wie seine Sätze, die manchmal mehrere Seiten einnehmen. Er pflegt auch keinen einheitlichen Stil, sondern wählt immer den, der dem Thema, dem Geisteszustand der Figur, der Erzählform angemessen ist, was nicht heißt, dass er nicht mitten in einer wissenschaftlichen Abhandlung über Halluzinogene in den Slang des betäubten Erzählers wechseln darf. Im Grunde treibt Wallace das, was immer mal wieder feuilletonistisch-hochtrabend an großen Schriftstellern gelobt wird, auf die Spitze: Er perfektioniert das Sich-einen-Dreck-um-die Form-scheren. Was ihn von manch vermeintlichem Genie abhebt: Er tut das nicht willkürlich. Er kann das, eben weil er die Formen und die feinsten Eigenheiten der Sprache so sehr beherrscht, dass er sogar die Satzzeichen instrumentalisiert. Sie geben den Rhythmus vor wie in einem ausgefeilten Gedicht – und das über rund 1600 Seiten hinweg. Man muss kaum erwähnen, welch übergroße Übersetzungsleistung Ulrich Blumenbach hier erbracht hat.

DFW wurde schon als er noch lebte als Genie bezeichnet. Genies sind rar, auch – oder besonders – in der Literatur. Er war eins. Man fragt sich hin und wieder, was aus den jung oder relativ jung gestorbenen literarischen Genies geworden wäre, hätten sie überlebt. Rolf Dieter Brinkmann etwa. Es ist vermutlich besser, es nicht zu wissen. Möglicherweise hätte auch Wallace, der gerade 46 Jahre alt wurde, als der Druck der Welt und des Lebens zu groß wurde, noch weitere Meisterwerke geschaffen. Vielleicht hätte er sich zurückgezogen wie Salinger. Ob ihm das geholfen hätte oder seine inneren Dämonen ihn dennoch erwischt hätten, auch das wird man nie erfahren.

Trotzdem – oder eben deshalb – wage ich eine Prognose: „Infinite Jest“ wird in hundert Jahren zu jenen Werken gehören, über die immer noch unermüdlich gesprochen werden wird. Scharen von nachfolgenden Generationen werden es lesen und zu ihrer Bibel erheben, Legionen von Literaturwissenschaftlern werden sich daran die Zähne ausbeißen. Insofern stimmt der Vergleich mit dem „Ulysses“. Vermutlich kommt „Infinite Jest“ an das Joyce’sche Monument nicht heran. Vermutlich aber ist „Infinite Jest“ der „Ulysses“ der heutigen Generation. Vermutlich wird man beide Werke in hundert Jahren in größerer Nähe zueinander beurteilen.

Heute vor einem Jahr ging ein Mann mittleren Alters, sanfte Stimme, scheuer, aber stets liebevoller und neugieriger Blick, in seine Garage. Nur wenige Minuten zuvor hatte er seine Frau gesagt, es gehe ihm gut, ganz bestimmt gehe es ihm gut, sie müsse sich nicht sorgen. Er hatte die Antidepressiva abgesetzt, die ihn zwar leben ließen, ihm aber jegliche Emotionen raubten. Er ging in seine Garage, holte einen Strick und einen Stuhl hervor, band einen sicheren Knoten, legte sich die Schlinge um den Hals, trat den Stuhl beiseite.


David Foster Wallace / Quelle: Wikipedia

David Foster Wallace

Unendlicher Spaß (Infinite Jest)

Übertragen von Ulrich Blumenbach

Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2009
ISBN 978-3-462-04112-5
1547 Seiten, 39,95 €


Online-Flyer Nr. 214  vom 12.09.2009

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