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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 9
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 201.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                      
5. Kapitel (Fortsetzung)

Der Alte wirkte nicht, als wüsste er etwas von Büros in Glas- und Stahl-Wolkenkratzern. Oder sollte er fragen, wie er nach Hause kam? Der Gedanke an seine Wohnung fühlte sich nicht an wie zu Hause. Seit die Stimme Sandras vom Blitz zum Schweigen gebracht worden war und nicht ständig das Handy klingelte oder eine Nachricht über den Messenger kam, fühlt er sich völlig allein. Er stand in dieser verdrehten, fremden Welt, und es gab niemanden, der da war. Selbst wenn sein Handy funktionieren würde, hatte keine Ahnung, wen er anrufen sollte, damit dieses Gefühl in seiner Brust aufhörte, das ihn zerriss. Natürlich, er konnte einen Pannendienst anrufen, der seinen Wagen und das Navi wieder reparieren würde. Aber könnte er einen Menschen anrufen, der herkommen würde, um ihm zu helfen? Oder auch nur, um da zu sein, ihm irgendwie das Gefühl zu geben, dass er nicht allein war hier draußen? Einen – Kevin kroch ein äußerst elendes Gefühl den Rücken hinauf, als er das Wort in Gedanken formulierte – Freund? Er dachte an die nichtssagenden Floskeln, die er über die Messenger ausgetauscht hatte. Daran, dass man zwar ständig das Telefon am Ohr hatte, Nachrichten schickte, in tausendundeinem virtuellen Netzwerk das Gefühl hatte, nicht allein zu sein und viele Menschen zu kennen. Aber jetzt, hier auf der Brücke mit diesem unwahrscheinlichen Greis in Fell und Schlapphut und einem Korb mit Fischen in der Hand, wurde ihm bewusst, dass er niemanden hatte, zu dem er konnte oder der zu ihm kommen würde.

„Wie du was?“ hörte er die Stimme des Alten.

Kevin fühlte sich seltsam, als er sich sagen hörte: „Ich weiß es nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir den Weg beschreiben können. Aber ich weiß nicht, wohin.“ Ein wirres, verzweifeltes Gefühl kroch von Kevins Magengrube in die Brust. „Ich weiß noch nicht einmal, wo ich bin und was das für eine Welt ist.“

Der Alte nickte nur und deutete auf den Wagen. „Wir fahren besser. Wenn du die Karre hier stehen lässt, ist morgen nur noch die Karosse übrig.“ Er ging zur Beifahrertür und setzte sich hinein. Kevin stieg hinter das Steuer und stellte den nassen Weidenkorb mit den Fischen auf die Rückbank. Es hatte immer noch etwas besonderes, den Wagen mit dem Zündschlüssel zu starten.

„Sieht nicht aus, als ob du einen Unfall hattest“, sagte der Alte. Er deutete auf eine Auffahrt, die direkt hinter der Brücke auf die Straße mündete. Der Asphalt war zerbröckelt und Kraut und kleinere Büsche wuchsen aus den Rissen. Vorsichtig fuhr Kevin hinein. Die fast zugewachsene Straße führte parallel zum Bach in das Brachland. Er musste aufpassen und um die Schlaglöcher herum manövrieren.

„Wieso Unfall?“

„Du fährst den Wagen von Hand. Und du bist es nicht gewohnt. Der Computer hat den Arsch zu gemacht? Was war es? Ein Virus? Ich hab gehört, dass Attac einen Guten programmiert hat.“

„Ein Blitz.“
„Ein Blitz?“
„Auf der Autobahn.“

Der Alte lachte, ein tiefes, angenehmes Lachen. „Das ist gut! Vom Blitz getroffen!“ Er deutete voraus. „Da vorn den kleinen Weg rein.“ Irgendwann war es wohl einmal eine Gasse zwischen zwei Lagerhallen gewesen, die Fundamente waren graue Flächen aus zersprungenem Beton. Plötzlich fuhr der Alte im Sitz herum und starrte nach hinten heraus. „Da! Schau es dir an!“ knurrte er und die Gelassenheit war aus dem Faltengewirr seines Gesichtes gewichen. Er brodelte vor unterdrückter Wut. Im Rückspiegel sah Kevin eine Art Bus die Brücke überqueren. Er drehte sich um. Der Bus war zum Bersten mit Leuten gefüllt, Leute wie die, die ihn angegriffen hatten. Sie wirkten müde. Mit leerem Blick hielten sie sich an den Haltestangen fest und starrten vor sich hin.

„Wohin fahren sie?“ fragte Kevin.

„Hierhin. Dorthin. Die meisten wissen es vorher nicht. Meistens in Fabriken, Lagerhallen. Sie kriegen am Tag vorher eine Nachricht, welcher Bus sie aufsammelt.“ Das Gefährt war über die Brücke und in eine Seitenstraße eingebogen. Die Bremslichter glühten auf, und etliche Leute stiegen ein, die Schultern hochgezogen. Es hatte etwas unsagbar Trostloses, ohne dass Kevin hätte sagen können, warum genau er das empfand.
"Navigator" Novelle von Norman Liebold, Illustration: Björn „The Hoink” Zutt
Illustration: Björn „The Hoink” Zutt
Der Alte drehte sich im Sitz um und schaute ihn mit hellen Augen an. „Du hast keine Ahnung“, sagte er, „wie diese Welt wirklich aussieht.“ Ihm lag mehr auf der Zunge. Viel mehr. Vielleicht war es zuviel – er saugte heftig an seiner Pfeife und warf die Hände in die Luft, ehe er ein Schnaufen von sich gab und nach vorn zeigte. „Da drüben kannst du dein Auto abstellen.“


Direkt voraus war eines der kleinen Wäldchen aus jungen Birken, Pappeln und Weidenbüschen. Vielleicht war hier eine Rasenfläche gewesen, als die Gebäude noch standen, und die Bäume hatten nicht erst Stein, Stahl und Beton brechen müssen, ehe sie wurzeln konnten. Sie waren vier, fünf Meter hoch gewachsen und standen so dicht, dass es wie eine grüne Wand wirkte. Kevin stellte den Wagen ab und griff sich den Fischkorb vom Rücksitz. Die Beifahrertür klappte, und er hörte die Stimme des Alten: „Hier lang.“

Von der zerborstenen, überwucherten Asphaltdecke des Weges führte ein Trampelpfad zwischen den Bäume hindurch. Es war, als ginge man durch einen Tunnel. Dann öffnete sich der Baumbestand, und Kevin schaute auf eine freie Fläche von gut hundert Metern im Durchmesser, ringsum von dicht wachsenden Bäumen umgeben wie von einer hohen Hecke. An der einen Seite stand etwas, das Kevin nur in dem einen oder anderen Film gesehen hatte, und das wir Heutigen vielleicht Zirkuswagen nennen würden. Ein riesiges Fass auf großen Holzrädern, in das man Fenster hineingesetzt hatte. Es war bunt bemalt mit Ornamenten aus Tieren und blühenden Ranken, an der Seite ragte schwarz ein Ofenrohr heraus, aus dem Rauch stieg.

Das rollende Fass mochte gut und gerne sechs Meter in der Länge und zweieinhalb im Durchmesser messen, davor standen zwei Korbstühle und ein Tisch, ebenfalls aus Korb geflochten. Am erstaunlichsten aber war, dass die ganze Lichtung ein großer, wohl bestellter Garten war. Kevin hätte nicht benennen können, was da alles über dunkler Erde stand und wuchs. Er konnte sich noch nicht einmal vorstellen, dass Tomaten an einem Strauch wuchsen, dass man Kartoffeln in die Erde steckte und im Herbst für jede, die man hinein gesteckt hatte, ein Dutzend wieder heraus grub.

Er sah auf Stroh gebettet Zucchini und Kürbisse unter ihren großen Blättern liegen, Kohlköpfe in langen Reihen stehen wie angewachsene Bälle in Violett und Blassgrün. Brusthoch stand der Rosenkohl, in einem Gewächshaus hingen noch Tomaten am Stengel. Gleich neben dem Wagen wuchs Lavendel und Minze, Oregano, Salbei und Thymian, Rosmarin und, in einer geschützte Ecke, Basilikum. Etliche der Beete waren frisch umgegraben, im Sommer hätte Kevin hier Weizen und Gerste sehen können, Hafer und Mais. Ein Teil der Lichtung war Wiese, mit einem Knüppelzaun abgetrennt. Drei Schafe standen darauf und zwei Ziegen. Und hinter dem Zirkuswagen stand mit kleinem Dach darüber ein kleiner Kaninchenstall und ein winziger Schuppen, vor dem Federn lagen.

„Mein kleines Reich“, erklärte der Alte, und in seiner Stimme schwang Stolz mit. Mit zügigem Schritt lief er durch seinen Garten, und Kevin folgte ihm, den Korb mit den Fischen in der Hand. Eine kleine Treppe mit drei Stufen führte zur Eingangstür im Boden des Fasses. Ein Türklopfer aus Bronze hing daran, rechts und links waren zwei winzige Fenster mit ebenso winzigen Blumenkästen davor.

Über den Himmel zog ein weiterer Pfeil Kraniche, und so verwirrend und seltsam das alles für Kevin war, in seinem Gefühl stellte sich eine gewisse Selbstverständlichkeit ein. Der Alte und sein seltsamer Wagen, das mit Liebe bemalte Holz, der sorgfältig angelegte Garten, all das hatte etwas friedvoll in sich Ruhendes, Starkes. Der Alte zog einen Schlüssel aus Eisen hervor und steckte ihn in das Schloss der Tür.

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 202  vom 17.06.2009

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