Literatur
Aus „An Deutschland gedacht“ – Lyrik zur Lage der Nation
Nocturne
Von Wolfgang Bittner
Nocturne
Trifft mich die Traurigkeit
unversehens wie ein Stein,
zieht mich zusammen,
der Tag wie Watte, verfilzt.
Die Erde kalt,
der Himmel hängt,
lastend in Schwerkraft
und die Materie drückt.
Die Toten sprechen,
ja, ganz deutlich.
Wüsste ich doch noch,
was sie sagten.
Dann im Radio Frédéric Chopin,
Nocturne Nr. 19 e-Moll
und draußen
diese goldenen Rapsfelder.
Ein guter Freund war gestorben, vorher schon nach dem Vater die Mutter; ein Romanmanuskript war abgelehnt worden („schreiben Sie Fantasy!“); die Prognose für die Altersversorgung war – trotz jahrzehntelanger intensiver und qualifizierter Arbeit erschreckend; die ohnehin bescheidenen Habenzinsen wurden von Steuern und Kaufkraftschwund aufgefressen... Das war die eine Seite, die mehr persönliche.
Die andere Seite, die mehr öffentliche, waren die zunehmende soziale Kälte, Massenarbeitslosigkeit, Streichung der öffentlichen Leistungen für Kultur und Soziales, diese dreiste Korruption in allen gesellschaftlichen Bereichen, Einschränkung von Bürgerrechten, eine Milliarde hungernder und verhungernder Menschen, sechzehn Kriege weltweit Anfang des 21. Jahrhunderts.
Der über Jahre betriebene Diebstahl an Lebenssicherheit gipfelt in einer ungeheuerlichen Finanz- und Wirtschaftskrise, die alle im vergangenen 20. Jahrhundert zyklisch aufgetretenen derartigen Krisen übertrifft und von den führenden Politikern wie auch von der überwiegenden Bevölkerung noch immer nicht als Systemkrise begriffen werden will.
Welcher halbwegs bewusste Zeitgenosse vermag das alles zu ertragen, ohne hin und wieder depressiv zu werden? Ich fuhr zu Freunden nach Ostfriesland, und zwar in die Gegend, wo ich aufgewachsen bin. Ich wanderte durch die Felder, durch den Wald, ließ mich von der Frühsommersonne wärmen, beobachtete die Vögel, Hasen und Fasanen, wie sie emsig ihre Nachkommenschaft versorgten. Der blühende Raps begann die Felder zu vergolden.
Abends saß ich mit den Freunden hinter dem Haus am Feuer, wir grillten, tranken Bier, sprachen von früheren Zeiten, diskutierten über Gott und die Welt und über die gegenwärtige Politik, die uns ängstigte und empörte. Allmählich kehrten die Lebensgeister wieder zurück, der umnebelte Kopf wurde freier. Aus dem Haus klang Klaviermusik von Frédéric Chopin.
(CH)
Online-Flyer Nr. 201 vom 10.06.2009
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