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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Literatur
Aus „An Deutschland gedacht“ – Lyrik zur Lage der Nation
Nocturne
Von Wolfgang Bittner

Nocturne

Trifft mich die Traurigkeit
unversehens wie ein Stein,
zieht mich zusammen,
der Tag wie Watte, verfilzt.

Die Erde kalt,
der Himmel hängt,
lastend in Schwerkraft
und die Materie drückt.

Die Toten sprechen,
ja, ganz deutlich.
Wüsste ich doch noch,
was sie sagten. 

Dann im Radio Frédéric Chopin,
Nocturne Nr. 19 e-Moll
und draußen
diese goldenen Rapsfelder.
 

Ein guter Freund war gestorben, vorher schon nach dem Vater die Mutter; ein Romanmanuskript war abgelehnt worden („schreiben Sie Fantasy!“); die Prognose für die Altersversorgung war – trotz jahrzehntelanger intensiver und qualifizierter Arbeit erschreckend; die ohnehin bescheidenen Habenzinsen wurden von Steuern und Kaufkraftschwund aufgefressen... Das war die eine Seite, die mehr persönliche.

Die andere Seite, die mehr öffentliche, waren die zunehmende soziale Kälte, Massenarbeitslosigkeit, Streichung der öffentlichen Leistungen für Kultur und Soziales, diese dreiste Korruption in allen gesellschaftlichen Bereichen, Einschränkung von Bürgerrechten, eine Milliarde hungernder und verhungernder Menschen, sechzehn Kriege weltweit Anfang des 21. Jahrhunderts.

Der über Jahre betriebene Diebstahl an Lebenssicherheit gipfelt in einer ungeheuerlichen Finanz- und Wirtschaftskrise, die alle im vergangenen 20. Jahrhundert zyklisch aufgetretenen derartigen Krisen übertrifft und von den führenden Politikern wie auch von der überwiegenden Bevölkerung noch immer nicht als Systemkrise begriffen werden will.

Welcher halbwegs bewusste Zeitgenosse vermag das alles zu ertragen, ohne hin und wieder depressiv zu werden? Ich fuhr zu Freunden nach Ostfriesland, und zwar in die Gegend, wo ich aufgewachsen bin. Ich wanderte durch die Felder, durch den Wald, ließ mich von der Frühsommersonne wärmen, beobachtete die Vögel, Hasen und Fasanen, wie sie emsig ihre Nachkommenschaft versorgten. Der blühende Raps begann die Felder zu vergolden.

Abends saß ich mit den Freunden hinter dem Haus am Feuer, wir grillten, tranken Bier, sprachen von früheren Zeiten, diskutierten über Gott und die Welt und über die gegenwärtige Politik, die uns ängstigte und empörte. Allmählich kehrten die Lebensgeister wieder zurück, der umnebelte Kopf wurde freier. Aus dem Haus klang Klaviermusik von Frédéric Chopin.


Gedicht und Text von Wolfgang Bittner sind entnommen aus:

"An Deutshcland gedacht" Axel Kutsch Verlag Ralf Liebe, Landpresse Cover
                                                                 
Axel Kutsch (Hg.)
„An Deutschland gedacht“
Lyrik zur Lage des Landes
Verlag Ralf Liebe/Edition Landpresse
192 Seiten, Paperback, 16 Euro
ISBN 978-3-941037-29-8

Anlässlich des „Jubiläumsjahres 2009“ (beispielsweise die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vor 60 Jahren, der Mauerfall vor 20 Jahren) und in Anlehnung an Heinrich Heines Anfangszeile aus seinem Gedicht „Nachtgedanken“ baten der Weilerswister Verlag Ralf Liebe und Herausgeber Axel Kutsch deutschsprachige Autoren, ihnen Lyrik zur Lage des Landes sowie – möglichst – Kommentare zu deren Entstehung zu schicken. So befinden sich in dieser Anthologie bei zahlreichen Gedichten Begleittexte, die von der erhellenden Notiz bis zum filigranen Essay reichen. 
 
Zu den 106 Lyrikern, die sich mit der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands befassen, gehören unter anderem Hans Bender, Wolfgang Bittner, Rolly Brings, Hugo Dittberner, Dieter M. Gräf, Manfred Peter Hein, Hans-Jürgen Heise, Franz Hodjak, Norbert Hummelt, Stan Lafleur, Ron Winkler, Gerrit Wustmann und Annemarie Zornack. Neben vielen kritischen und nachdenklichen Tönen bleibt auch Raum für die eine oder andere verhaltene Liebeserklärung an ein schwieriges Vaterland.

(CH) 

Online-Flyer Nr. 201  vom 10.06.2009

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