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Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

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In Kooperation mit um[laut] – die ART, sich auszudrücken, interessiert.
„Monitoring“
Von René Steininger

Ich bin nichts Besonderes, und ich mache diesen Job seit fast fünf Jahren. Davor war ich arbeitslos und vorher ein kleiner Angestellter im Versicherungsgeschäft. Ich habe die Akten nicht gestohlen, die man mir zu sortieren gab. Es wurden mir bloß eines Tages zu viele, und so ließ ich ein paar verschwinden.
Ich wollte nur meine Ruhe, ich wollte nie an ihr Geld. Andere brachten es fertig. Die dann ihre Prämien kassierten und die Karriereleiter hochstiegen. Die es später in den Vorstand schafften und die oben, in den oberen Etagen, mit dunklen Anzügen zwischen den Zimmern gewichtig hin- und hereilten. Und wir unten hörten das Verrücken der Stühle vor und nach den Sitzungen, in denen auch über unser Los entschieden wurde.
 
Eines Tages war die Reihe dann an mir, ein Kapo aus meinem Arbeitskreis, jetzt neu gewähltes Vorstandsmitglied, überbrachte mir den Brief höchstpersönlich. Den Wisch, der mich der verantwortungsvollen Aufgabe entzog, Akten nach Auftragsnummern zu ordnen. Ich wurde über Nacht arbeitslos und zugeteilt. Meine neue Gruppe bestand aus einem Haufen Gestrandeter und zwei Betreuern vom Arbeitsamt.
 
Wir erhielten Nachhilfestunden in Mathematik, Grammatik und Rechtschreibung und lernten, wie man sich blind, taub, einbeinig, halb oder ganz debil, mit oder ohne Zähne, zwanzig oder siebzigjährig auf dem freien Markt erfolgreich um eine offene Stelle bewirbt. Ich lernte, wie man Wörter, die ich bis heute nicht verstehe, richtig ausspricht und was meine besonderen Fähigkeiten sind. Also nichts. Ich hab noch immer keinen blassen Schimmer, wo meine Stärken liegen. Und was das Wort Fortbildungsmaßnahme bedeutet für unsereins. Dafür wurde ich aufmerksam auf neue Schwächen. Neue Unfähigkeiten. Es gehört nicht viel Talent dazu, sie ausfindig zu machen, doch meine eifrigen Helfer hatten es im Übermaß. Ich weiß jetzt, dass ich nichts weiß. Mein Hirn ist eingerostet und bedarf dringend einer Auffrischung, eines regelmäßigen Trainings.
 
Ich wurde zum Augenarzt geschickt, der einen Sehfehler diagnostizierte. Heute, nachdem ich seit sechs Jahren Brillenträger bin, hat sich die kleine Sehstörung zu einer anständigen Myopie fortgebildet. Ich besitze trotzdem noch immer einen unbestechlichen Blick, den ich in meinem neuen Job auch dringend brauche. Der Tipp kam natürlich nicht von meinen Betreuern. Ich bekam ihn von einem alten Bekannten aus der Versicherungsanstalt.
 
Ich bin jetzt Aufseher und sitze meine Arbeitswoche vor einem Monitor ab. Genauer: vor sechs Monitoren. Sechs Monitore für die sechs Stockwerke des Kaufhauses. An einem siebten wird über unseren Köpfen gerade gebaut. 

Ich sitze und beobachte den Kundenverkehr. Es ist nichts dabei. Ein Routinejob. Die meisten halten sich an die Spielregeln. Überraschend genug. Ich könnte den ganzen Tag vor meinen Monitoren schlafen, es würde nicht viel mehr gestohlen. Vielleicht wissen die Leute, dass über ihnen Kameras laufen und sind deshalb auf der Hut. Die ins Netz gehen, sind kleine Fische. Hin und wieder eine billige Kette, Modeschmuck, der in der weiten Jackentasche einer minderjährigen Göre verschwindet. Der Wert der Ware liegt weit unter dem Preis der Angst, den sie dafür bezahlt hat.
 
Meinem Kollegen macht das sichtlich Spaß. Er gefällt ihm, den Gejagten in ihren Gesichtern zu sehen. Es gibt ihm ein gutes Gefühl, wenn sie vor ihm erröten. Nicht so sehr der Macht, aber der Genugtuung, der erfüllten Pflicht. Ein moralisches Gefühl, glaube ich. 

Er mag es auch, den Frauen auf den Bildschirmen der Monitore nachzuspionieren. Er mag es, während er sich selbst vor ihren Blicken sicher weiß, ihnen hemmungslos auf die Brüste gaffen zu können, auch wenn er dadurch selbst zum Dieb wird. Titten, damit hat er sein Auslangen. Den ganzen Tag redet er von nichts anderem. Ich mag seine Anzüglichkeiten nicht, aber ich habe mich an sie gewöhnt. Er schwitzt und riecht auch so. Auch daran habe ich mich gewöhnt. 


„Monitoring“ Foto: Matti Mattila
„Monitoring“ | Foto: Matti Mattila

Freilich, ich könnte ihn beim Filialleiter anzeigen. Aber er ist zufällig hier wie ich, das Geschick hat uns zufällig in unsere lächerlichen Uniformen gesteckt und für eine Zeit aneinander geschmiedet. Er tut mir Leid. Außerdem, wer garantiert mir, dass etwas Besseres nachkommt, wenn er geht?
 
Ich habe gehört, die oben haben Geld zur Seite gerafft. Es gehen so Gerüchte. In gewisser Weise kommen sie mir entgegen, diese bösen Zungen. Ich drücke jetzt in der Arbeit schon mal ein Auge zu, oder alle beide. Soll die arme Sau doch ruhig auf Brautschau gehen! Es hält seinen Blick an einem einzigen Bildschirm gefesselt, und er übersieht dafür vieles andere, z.B. was ich auf meinem Monitor gerade beobachtet habe: den Alten, der an dem Schaukasten mit den Taschenuhren rüttelt. Nein, ich empfinde keine besondere Sympathie für den greisen Schnorrer da unten, so wenig wie für meinen Kollegen hier oder sonst wen.
 
Was braucht der Alte eine Uhr, wo seine Zeit ohnehin abgelaufen ist?
 
Ich mag sie nicht leiden, diese gierige Brut, die Diebe, die frechen Jugendlichen und das ganze arbeitsscheue Pack, die Hausfrauen, die nicht wissen wollen, wie die teuren Seidenstrümpfe urplötzlich in ihre billigen Handtaschen gelangt sind. Sie sind Parasiten. Unwissende freilich. Kleine, unschuldige Schmarotzer. Aber über uns, uns vorgesetzt, sitzen noch größere und darüber vielleicht der größte. Der Parasitenkönig und wacht über seine nichtsnutzige Schöpfung.
 
Darum kommen sie jetzt alle ungeschoren davon, ich lasse sie durchschlüpfen, die kleinen wie die großen, die guten und die schlechten Fische. Sollen sie sich ruhig auf illegalem Wege holen, was ihnen sonst der Geiz verbietet. Ich bin kein Gott, aber ich habe meine Lektion gelernt. Und die sagt mir, dass ein Warenhaus kein Gerichtssaal ist. Auch wenn sie es aufstocken, wird kein babylonischer Turm daraus. Es ist nichts Sündhaftes an einem Warenhaus, nur sehr viel Billiges. Und solange ich diesen Posten mit meiner lächerlichen Uniform bekleide, werden darum alle, die sich hier schuldig machen, die hehlen und stehlen und sich am Gesetz vergehen, auch straffrei bleiben.
 
So wie ich, wenn die oben mir eines Tages wieder auf die Schliche kommen. Es wird heißen, ich sei überarbeitet gewesen. Es wird kein Verfahren gegen mich erhoben und ich werde nicht schuldig gesprochen, nur
arbeitsuntauglich erklärt werden. Und die Beamten am Arbeitsamt werden mich wieder meinen Betreuern zuteilen, den beiden Schnapsnasen, die bereits auf mich warten. Es wird mich nicht mehr unvorbereitet treffen. Ich weiß Bescheid und worauf ich gefasst sein muss. 

Marokko Wüste Sahara Foto: Rosa Cabecinhas und Alcino Cunha
... zum Beispiel die marokkanische Wüste      
Foto: Rosa Cabecinhas und Alcino Cunha
Ich liebe seit jeher die großen Weiten, und die Wüsten liebe ich besonders. Die Wüsten und ihre heißen Winde. Ich lese alles darüber und im Fernsehen haben sie kürzlich diesen Film gezeigt, eine Dokumentation. Ich habe den Zug der Sandmassen auf die Städte gesehen. Und auch den Kommentar dazu habe ich gehört. Die Wüste wächst, hieß es da, und dass die Erde langsam wieder versandet. Wenn ich jetzt hier an meinen Monitoren sitze, denke ich oft an diesen Satz. Die Wüste wächst, sage ich mir dann, ist eine gute Nachricht für mich und alle, die ihr Leben in den Sand gesetzt haben.


Rene Steininger
René Steininger, wurde am 30 Mai 1970 Paris geboren und ist Aphoristiker, Lyriker und Essayist. Kindheit in Prag und Helsinki. 1988 französisches Baccalaureat in Kuwait. Danach ein Jahr in New York. Von 1989 bis 1997 Studium der Philosophie in Wien. Promotion im Frühjahr 1997 mit einer Arbeit über Nietzsche und die französische Postmoderne. In der Folge in rund einem Dutzend verschiedener Berufe, unter anderem als Sozialarbeiter, Verlagslektor und Übersetzer in Wien und Hamburg tätig.

Zwischen 2000 und 2005 Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Bukarest und Bratislava. Seit 2005 freiberuflicher Deutschlehrer und Jobcoach in Wien.
Buchveröffentlichung: „Rinforzando: Gedichte & Geschichten“


Die Erzählung von René Steininger erschien in Kooperation mit dem um[laut]-Magazin:
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(CH)


Online-Flyer Nr. 200  vom 03.06.2009

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