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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung
„Navigator“ – Teil 2
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 194.
   
    2.


"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                                  
Kevin musste sich gegen den Wind stemmen, als er aus der Haustür trat. Es hatte zu regnen begonnen, aber sein silbergrauer Wagen stand abfahrbereit nur wenige Meter entfernt am Bordstein. Die Tür öffnete sich, als er heran trat, und er stieg schnell ein.

„Möchten Sie selbst fahren?“ fragte Sandra.

Kevin legte seine Aktentasche auf den Beifahrersitz.

„Natürlich will ich selber fahren!“ erklärte er der Maschine wie fast jeden Morgen. Sie wurde es nicht leid, jeden Tag aufs Neue zu fragen. „Starte den Wagen!“

Mit einem angenehmen Schnurren lief der Elektromotor an. Seit gut zehn Jahren waren die Wagen, die mit Brennstoffzellen-Technologie fuhren, immer häufiger geworden. Eine interessante Sache – Kevin kannte sich hiermit ein wenig aus, Automobilindustrie und Rohstoffmarkt gehörten zu seinen Spezialgebieten. In den Zwanzigzehner Jahren hatte ein Umdenken stattgefunden, das schrieben sich die Energiekonzerne heute groß auf die Fahnen. Kevin glaubte nicht zu sehr an die Parolen von Umweltschutz, Verhinderung von Klimakatastrophen und nachhaltiger Wirtschaft. Vielleicht, weil er mehr Einblick hatte als andere.

Und weil er ein überaus kritischer Geist war, natürlich.

Das Öl war einfach zu knapp geworden, um es in die Luft zu blasen, damit zig Millionen Blechkarossen sich bewegen konnten. Die Petrolchemie braucht es dringender in dieser Plastik-Zeit, und also hatte man das Modell Verbrennungsmotor auf das Abstellgleis geschoben und die seit den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts ausgereiften Pläne für Wasserstoff-Automobile und die zugehörige Infrastruktur ausgegraben.

Kevin löste die Bremse und drückte das Pedal für die Geschwindigkeit langsam nieder.

Es war alles andere als verwunderlich gewesen, dass sämtliche Automobilkonzerne nahtlos die Produktion umstellen konnten, als die Regierung die neuen Gesetze erließ. Und noch weit weniger erstaunlich, dass das Geschäft mit dem Vertrieb von Wasserstoff von Anfang an fest in den Händen der Öl- und Energieriesen gewesen war.

„Die nächste Straße in einhundert Metern links“, erklärte Sandra. Ein Teil der Windschutzscheibe war halbtransparent geworden und zeigte den Vorort, durch den er fuhr. Er konnte seinen silbergrauen Wagen sehen, als schwebte er zwanzig Meter hoch hinter ihm. Am Horizont des projizierten Bildes war der Kölner Dom zu erkennen. Die Wolken waren schwarz wie Pech. „In zweihundert Metern über den Kreisverkehr.“ Die Navigationssysteme waren seit fünfzehn Jahren serienmäßig eingebaut. Je nach Wagenklasse unterschieden sie sich in der Aufmachung – die mit Windschutzscheiben-Einspiegelung war die teuerste –, aber von ihrer Genauigkeit nahmen sie sich nichts. „Nach einhundertfünfzig Metern nehmen Sie die Auffahrt zur A3 Richtung Köln.“

„Sandra, du kannst eine Weile übernehmen, wenn du möchtest.“
„Gerne, Kevin.“

Kevin nahm die Hände vom Lenkrad. Autobahn langweilte ihn schrecklich. Links und rechts, fast die ganze Strecke entlang, zogen sich Lärmschutzwände. Sie waren dicht mit Pflanzen überwuchert und mochten für sich genommen recht hübsch aussehen, aber es war eine eintönige Fahrt wie durch endlose Tunnel.

„Du kannst mir jetzt die Nachrichten vorlesen.“ Kevin rauschte mit zweihundertzwanzig durch die tunnelähnliche Lärmschutz-Schlucht der Autobahn. Die Hände hatte er im Nacken verschränkt, den Sitz so nach hinten geschoben, dass er die Beine übereinander schlagen konnte. Mit einer gewissen Trägheit verfolgte er das Bild auf dem matten Teil der Windschutzscheibe, das dreidimensional seinen Weg ins Innenleben von Köln zeigte. Als er das erste Mal eines von den hochauflösenden Geräten gesehen hatte, musste er sich unwillkürlich umsehen, ob irgendwo hinter ihm in zwanzig Metern Höhe ein Hubschrauber schwebte, und sei es auch nur einer von diesen kleinen Kamera-Drohnen, mit denen die Polizei durch die Stadt patrouillierte.

Das Bild sah nicht mehr aus wie auf den Geräten der ersten oder zweiten Generation, die eine Art Straßenkarte in Aufsicht gezeigt hatten. Das Bild auf seiner Windschutzscheibe wirkte wie eine Videoaufnahme, über die Straßen- und Ortsnamen gelegt waren. Noch heute wollte es Kevins Gefühl irgendwie glaubhafter erscheinen, dass hinter und über ihm eine Kamera mitflog, anstatt dass der Computer das Bild aus unzähligen Datenbanken generierte, auf Wetterlage und Tageszeit abstimmte und sogar ab und zu – wahrscheinlich aus lauter Spielfreude – einen Vogel durch das Bild gleiten ließ.


Sandra zapfte inzwischen die Nachrichten-Feeds an. Kevin war offenbar in einer seltsamen Stimmung heute Morgen: Anstatt den Berichten zuzuhören, die hauptsächlich die Weltwirtschaftslage betrafen, Entlassungen und Aktienkurse mit einem kurzen Schlenker zur Verlängerung des Iran-Mandats der Europäischen Armee, ging ihm durch den Kopf, dass die Nachrichten vom Computer aus einer unüberschaubaren Fülle ausgewählt wurden, und zwar danach, was der Computer anhand seines Profils als für ihn interessant bewertete. Auf dem Bildschirm des Bordcomputers blinkte es. Jemand wollte mit ihm reden, aber Kevin trieb zwischen den Lärmschutzwänden und unter den schwarzen Wolken dahin, und vor seinem inneren Auge entwarf sich ein Bild, das noch wesentlich finsterer war als der Himmel.

Er hatte ab und zu solche Anwandlungen, stellte Dinge in Frage, über die man einfach nicht nachdachte. Dann war es nicht einfach mehr praktisch, dass der Computer die Nachrichten für jeden personalisierte und filterte. Dann stellte sich die Frage, nach welchen Kriterien die Maschine das tat. Und dass sie damit in gewisser Weise die Welt erschuf, die er wahrnahm – und dann schien sich ein schwarzer Abgrund gerade in seinem Hirnkasten zu öffnen.


Ziemlich genau in diesem Moment geschah etwas, das, wie ich zugeben muss, in höchstem Maße unwahrscheinlich war.

Ein Blitz schlug in Kevins Wagen ein.

Natürlich geschah Kevin abgesehen von dem nicht geringen Schrecken weiter nichts, als alles mit einem Schlag zu gleißender Helligkeit wurde. Der Wagen wirkte wie ein Faradayscher Käfig, und im Innern stiegt noch nicht einmal die Temperatur an. Allerdings erging es den empfindlichen elektronischen Geräten gänzlich anders. Die Karosse diente zugleich als Antenne, und dort, wo das Navigationsgerät mit dem Metall der Außenhülle verbunden war, zwängte sich der Blitz in den dünnen Draht. Er glühte auf wie der Wolframfaden einer Glühlampe und verdampfte, aber der Blitz war schneller, als das Kupfer der Leitung verdampfen konnte – er fuhr zuerst in den Bordcomputer, dessen integrierte Schaltkreise mit einem wenig dramatischen Geräusch zu einem Klumpen mit Silizium durchsetzten Plastiks verschmolzen. Von hier aus verteilte er sich den verdampfenden Datenkabeln entlang – so schnell, dass kein Auge ihm hätte folgen können: Für Kevin im Faradayschen Käfig seines Wagens war keinerlei zeitliche Folge zu erkennen. Für ihn zerplatzte das Mobiltelefon in der Freisprech-Anlage im selben Moment, in dem der Teil der Windschutzscheibe blind wurde, auf dem das Bild des Navigationssystem zu sehen gewesen war. Was er, noch auf die rauchenden Reste seines Telefons starrend, zumindest etwas später bemerkte, war, dass der Computer nicht mehr länger seinen Wagen steuerte.

Der Wagen war aus.

Er rollte nur noch und verlor schnell an Geschwindigkeit. Laut hupend wich ein LKW mit jener eigenartig flüssigen Bewegung auf die äußerste der fünf Spuren aus, die den Autopiloten verriet. Bei diesen Geschwindigkeiten kam menschliches Begreifen nicht mehr mit.

Glücklicherweise waren Kevins Reflexe schneller als sein Begreifen: Er packte das Lenkrad, rutschte auf die vorderste Kante seines Sitzes und brachte seine Füße auf die Pedalen. Mit panischem Herzrasen orientierte er sich.

Zum Glück war die A3 an diesem Morgen wenig befahren. Ansonsten hätte er nie wieder über irgendetwas nachgrübeln brauchen – er war mit zweihundertzwanzig Stundenkilometern, ohne auch nur den Blinker zu setzen, quer über die Fahrbahn gerast. Drei Spuren hatte er gewechselt, ehe er die Hand ans Lenkrad und den Wagen wieder unter Kontrolle bekam. Das Gesicht in dem Wagen, der ihn überholte, starrte ihn entgeistert an. Kevin setzte den Blinker und wechselte Spur um Spur, bis er auf dem Standstreifen war. Als er stand, stieg er aus und atmete langsam Zug um Zug. Es waren höchstens zwanzig Herzschläge vergangen, und sein Herz raste und hämmerte in seiner Brust wie eine Maschine, die durchdrehte und sich gleich selbst in tausend Einzelteile zerreißen würde.

Die Reste des Mobiltelefons rauchten immer noch, und auch aus verschiedenen Öffnungen und Ritzen des Armaturenbretts stieg Rauch. Kevin begriff nicht, was geschehen war – die Außenseite des Wagens zeigte keinerlei Spuren. Nur dass das Regenwasser in weißen Schwaden vom Blech aufstieg, verriet, dass es warm geworden war. Der Blitz war durch die Karosse gepulst und dann direkt in den Beton der Autobahn gesprungen. Nur sein kleiner Umweg durch die Bahnen des Bordcomputers hatte irgendwelche Folgen gehabt:nach verbranntem Plastik stinkender Rauch, ein paar Meter zerschmolzene Kupferdraht und zwei Klumpen, die einmal integrierte Schaltkreise gewesen waren – nämlich der Bordcomputer samt Navigationssystem und das Handy, das unglücklicherweise mit ihm über die Freisprechanlage verdrahtet gewesen war.

Kevins erste Vermutung war, dass es irgendeinen Kurzschluss gegeben hatte, vielleicht, weil Regen irgendwo eingedrungen war. Es machte im Grunde auch gar keinen Unterschied weiter, ob ein Regentröpfchen zwei Drähte kurzgeschlossen oder ein Blitz in seinen Wagen gefahren war – die Geräte waren ebenso unrettbar verloren, wie der Wagen selbst keinen erheblichen Schaden genommen hatte. Lediglich für unsere Geschichte ist es von nicht unerheblichen Reiz, dass es ein geradezu göttlich zu nennendes Eingreifen war, das unseren Helden aus seiner Welt heraus katapultierte. Andererseits – nichts anderes als ein solches Stück unberechenbarer und vor allem auch unwahrscheinlicher Naturgewalt hätte dies vermocht. Die Sicherheit wurde groß geschrieben, und es gab nicht nur gegen alles und jeden alle erdenklichen Formen von Versicherungen. Insbesondere Automobile und die Geräte der Telekommunikation waren gegen nahezu jede Form von Störung und Beschädigung abgesichert. Das war in der hoch entwickelten technologischen Gesellschaft notwendig, in der Kevin lebte und arbeitete.

Lediglich ein so gänzlich unwahrscheinlicher Zufall wie vom Blitz getroffen zu werden, den weder die Automobilhersteller noch die Entwickler von Computern und Telekommunikationsgeräten in ihren Überlegungen berücksichtigt hatten, konnte Kevin neben seinem dezent vor sich hin dampfenden silbergrauen Wagen stehen lassen, das Gesicht kalkweiß vor Schreck. Während er mit etwas weggetretenem Blick auf die vorüber rasenden Wagen starrte, begann sein Herz, ruhiger zu schlagen. Der Regen durchtränkte seinen Anzug und brachte Kevin mit seiner Kälte langsam wieder zu sich. Langsam drehte er sich um und trat zum Wagen zurück. Er bemerkte die Schwaden feinen Wasserdampfes, die über dem silbergrauen Blech standen und legte die Hand vorsichtig darauf. Es fühlte sich warm an.

Ein Blitz zuckte vom Himmel, raste auf irgendetwas hinter der drei Meter hohem Lärmschutzwand zu und verschwand. Die Erinnerung an das gleißende Licht, das ihn für einen kurzen Augenblick eingehüllt hatte und an den ohrenbetäubenden Knall ließen den Funken in Kevins Geist überspringen. Mit ungläubiger Miene starrte er den dampfenden Wagen an, und sein Mund formte lautlos das Wort: „Blitz“.

Für einen Moment war Kevin fast surreal zumute, und eine eigenartige, irgendwie schräge Heiterkeit stieg in ihm herauf und brach sich als kurzes, meckerndes Lachen Bahn. „Vom Blitz getroffen“, schüttelte er den Kopf. „Das glaubt mir kein Schwein!“ Er schritt um den Wagen herum, bückte sich, um darunter zu schauen, fand aber nichts als eine Schmauchspur am unteren Rand des vorderen Kotflügels, von der er sich sagte, dass hier der Blitz die Karosserie wieder verlassen haben musste. Er fühlte den Drang, dieses unglaubliche Geschehen irgend jemandem zu erzählen und setzte sich ins Wageninnere.


Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-29-7

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 195  vom 29.04.2009

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