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Globales
Tschechische Regierung stolpert über ihre eigenen Schlingen
Regierung und Radar gekippt
Von Christian Heinrici

Die Nachrichten überschlugen sich: Am 18. März „musste“ die Tschechische Regierung schon eines ihrer Lieblingsvorhaben, die Einrichtung eines Radars, das Teil des US-amerikanischen „Raketenabwehrschilds“ bilden soll, als Vorlage aus dem Parlament zurückziehen. Einige Abgeordnete glänzten durch Abwesenheit, die hauchdünnen Mehrheitsverhältnisse schwankten beträchtlich. Am 24. sprach nun eine Mehrheit von 101 Abgeordneten der Minderheitsregierung das Misstrauen aus, Ministerpräsident Topolánek kündigte seinen Rücktritt an: Touché!

Was viermal zuvor wegen wechselnder Mehrheiten im Parlament nicht gelungen war, glückte diesmal: Vier Abgeordnete aus dem liberal-konservativ-grünen Regierungslager hatten sich für den Misstrauensantrag ausgesprochen. Damit wurde offiziell, was längst jeder im Land wusste: Schon bei verschiedenen Abstimmungen in der Vergangenheit hatte sich die Regierung ihre Mehrheiten mühsam zusammensuchen müssen. Unsicheres Lavieren in den Stürmen der „Finanzkrise“ hatte ihr weitere Kritik eingehandelt.

petr wolf CSSD
Mehrheitsbeschaffer Wolf
Quelle: CSSD
Und dann war da noch die Affäre um Petr Wolf: Der ehemalige sozialdemokratische Abgeordnete hatte laut Vorwürfen der Staatsanwaltschaft seiner eigenen Firma öffentliche Gelder zugeschustert. Aus seiner Partei und Fraktion ausgetreten, spielte er für Freund Topolánek gerne den Mehrheitsbeschaffer. Der tschechische Premier wiederum wollte sich erkenntlich zeigen und hatte – mit Hilfe eines befreundeten Lobbyisten – versucht, eine Sendung im Tschechischen Fernsehen über Wolfs Machenschaften zu verhindern. Doch Topoláneks „reiner Akt der Menschlichkeit“, wie Wolf es ausdrückte, war dem Premier nun zur Schlinge geworden.

Schon am 18. März hatte Oppositionsführer Jiří Paroubek gewarnt: „Falls die Regierung das kommende Misstrauensvotum überlebt – was wir nicht glauben – dann sollte sie sich ernsthaft mit dem künftigen Stil ihrer Arbeit befassen.“ Der Vorsitzende der tschechischen Sozialdemokraten war wegen Topoláneks Winkelzug, die Abstimmung über das geplante Radar in der Region Brdy, einfach wieder von der Tagesordnung zu streichen, sichtlich erbost gewesen.

„Was wir getan haben, ist vom Gesetz gedeckt...“ hatte sich Topolánek letzte Woche noch bemüht, die „ungewöhnliche Entscheidung“ zu rechtfertigen. Man könne die Verträge jederzeit wieder einbringen, „wenn erstens klarer ist, wie die neue US-Regierung und die NATO zum Radar stehen, und zweitens die Atmosphäre im Abgeordnetenhaus weniger aufgeregt und destruktiv ist.“

Mirek Topolanek PM Czech NATO Sec Jaap de Hoop Scheffer Foto: Ludek Krusinsky
NATO-Generalsekretär de Hoop Scheffer versuchte das Parlament einzustimmen, Topolánek steht stramm | Foto: Ludek Krusinsky

„Destruktive Atmosphäre“ passt in jeder Hinsicht natürlich vielmehr auf das Radar, das in der mittelböhmischen Region Brdy installiert werden sollte – hatte doch die geplante Anlage zu erheblichen Spannungen mit Russland geführt, weil es die Zweitschlagsfähigkeit des Landes und das sicherheitspolitische Gleichgewicht Europas in Frage gestellt hätte. Moskau hatte schon in der Planungsphase den KSE-Vertrag gekündigt und mit der Aufstellung von Atomraketen im nahen Kaliningrad gedroht.

„Für uns ist es ein großartiger Sieg!“, erklärte Jan Tamas, Sprecher der tschechischen Bewegung für Gewaltfreiheit und Mitinitiator der weltweiten Initiative gegen den Raketenschild: „Eine Regierung, die die Interessen der US-Rüstungsindustrie vertreten hat, gehört nun der Vergangenheit an! Wir wussten, dass ihr Rücktritt der einzige Ausweg war, das Radar noch zu verhindern, und wir haben zwei Jahre daran gearbeitet. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit war es, die Parlamentarier zu ermutigen, die sich gegen das Radar ausgesprochen hatten, und die anderen nachdenklich zu stimmen.“

Jan Tamas und Jan Bednar Hungerstreik hungerstrike 2008
Jan Tamas und Jan Bednar während des       
Hungerstreiks 2008 | Quelle
Gemeinsam mit anderen war der Humanist letztes Jahr in einen dreiwöchigen Hungerstreik getreten, um seinem Protest gegen das „Starwars-Projekt“ Nachdruck zu verleihen (die NRhZ berichtete). „Das hat die Sozialdemokraten bewogen, klarer Position zu beziehen [1], und es dürfte ihnen schwerer fallen, später ihre Meinung wieder zu ändern. Die Kommunisten im Parlament hatten unsere Initiative ohnehin von Anfang an unterstützt...“ Doch mehr als das: In unzähligen Aktionen konnte die Bewegung über 140.000 Unterschriften gegen das geplante Radar sammeln, im Februar hatten vierzig tschechische Bürgermeister und hunderte Aktivisten gegen die Anlage im EU-Parlament protestiert.

Auch zum NATO-Gipfel in Straßburg und zum Besuch des US-amerikanischen Präsidenten Obama am 5. April in Prag, der sich ungewohnt abwartend verhält, sind Aktionen angekündigt. „Wir begrüßen Obamas Bemühungen um nukleare Abrüstung, und dass er wohl eher auf diplomatische als auf militärische Lösungen setzt...“ erklärte Jan Bednar, der ebenfalls letztes Jahr in den Hungerstreik getreten war: „Wie auch immer, aber wir wollen den amerikanischen Präsidenten wissen lassen, dass fremde Truppen hier nicht willkommen sind!“

Proteste gegen das Radar des Raketenschilds in Prag Demozug
Prag 2007: Beginn der Proteste und eines
langen Marsches für Frieden
„Jetzt können wir endlich ein neues Kapitel in unserem Kampf in der Tschechischen Republik aufschlagen. Und nun ist es wichtig, eine starke Opposition gegen das ‚Starwars-Projekt’ und für nukleare Abrüstung auch in anderen Ländern auf die Beine zu stellen!“ konstatierte Jan Tamas optimistisch aber nicht ganz abschließend. Im Oktober diesen Jahres stünde der „Weltweite Marsch für Frieden und Gewaltfreiheit“ an. Die internationale Initiative, der sich neben den tschechischen Friedensaktivisten zahlreiche Prominente, wie Desmond Tutu oder Noam Chomsky angeschlossen haben, bringt in über 90 Ländern lokale und globale Probleme zu den Themen Krieg und Gewalt zur Sprache. In unzähligen Friedensaktionen sowie in Gesprächen mit Regierungen und Institutionen wird auf die Gefahr durch Atomwaffen, wachsenden Militarismus und Aufrüstung oder weltweite militärische Interventionen wie in Afghanistan aufmerksam gemacht werden.

Keine Frage, der Hunger nach weltweitem Frieden wird nicht leicht zu stillen sein – denn es ist ein Projekt, das Appetit macht! (CH)

[1] Ursprünglich war es eine sozialdemokratische Regierung in Tschechien gewesen, die die Verhandlungen mit den USA über das Radar aufgenommen hatte.



Online-Flyer Nr. 190  vom 25.03.2009

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