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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Globales
Über die Hintergründe des Krieges gegen den Gazastreifen
Die Dämonisierung der HAMAS
Von Ivesa Lübben

„Ich bin sicher, wir werden irgendwann in der Lage sein, in all den anderen Teilen dieses Landes zu siedeln, sei es durch gegenseitiges Einverständnis mit unseren Nachbarn, sei es durch Gewalt. Errichtet jetzt einen jüdischen Staat, selbst wenn es nicht im ganzen Land ist. Der Rest wird im Laufe der Zeit noch kommen. Er muss kommen.” - David Ben Gurion 1937 in einem Brief an seinen Sohn Amos [1] 

Ben-Gurion
Quelle: Kaos-Archiv
Diskurse über politische Ereignisse haben oft die Tendenz, sich zu verselbstständigen. Irgendwann setzen sie sich in den Köpfen fest und werden als wahr angenommen. Auf der Basis dieser “Wahrheit” werden dann Wertungen vorgenommen und politische Entscheidungen getroffen, ohne dass diese “Wahrheit” mit empirischen Tatsachen abgeglichen wird. Diskurse werden dann selber zu gesellschaftlicher Realität und zu einem politischen Machtfaktor. Die Wahrnehmung lässt sich geradezu archetypisch an der Rezeption der Ereignisse im Gazastreifen nachvollziehen. Problematisch werden solche “diskursiven Wahrheiten” jedoch, wenn sie in Realitäten eingreifen, die eben nicht deckungsgleich mit denen des Diskurses sind, der über diese Realitäten zirkuliert – vor allem, wenn es wie im Gaza um das Leben tausender Menschen geht.
 
Teil der “Achse des Bösen”?
 
Die gängige Grundhypothese über den Krieg in Gaza besagt, die HAMAS[2] habe den Krieg durch die Aufkündigung des Waffenstillstandes mit Israel, der am 19. Juni 2008 in Kraft getreten war, provoziert. Die Begründung: Die HAMAS habe israelische Orte ständig mit Qassam-Raketen beschossen. Deswegen hätte Israel sich wehren müssen. Die Ausschaltung des militärischen Potentials der HAMAS sei eine Voraussetzung für den Frieden in der Region. Alle anderen Hypothesen, wie die, dass die HAMAS bewusst Zivilisten als menschliches Schild benutze, dass sie den Tod von Zivilisten bewusst einkalkuliere, erscheinen dann ganz logisch als Konsequenz ihrer Friedensunwilligkeit und fanatischen Militanz.
 
Die Dämonisierung der HAMAS, die Konstruktion einer vermeintlichen Dichotomie zwischen der (”bösen”) “radikal-islamistischen” HAMAS und der (”guten”) “moderaten” al-Fatah oder die vor allem in den USA verbreitete These einer strategischen “Achse des Bösen” aus Iran, Hizbu Allah und HAMAS sind weder hilfreich für eine politische Analyse, da sie die Kontexte des Handelns unberücksichtigt lassen, noch entsprechen sie den empirischen Tatsachen.
 
Gewählt wegen ihrer Sozialarbeit
 
Erstens: Die HAMAS ist eine konservative islamistische Organisation, die ihre Basis vor   allem ihrer Sozialarbeit zu verdanken hat und die bereit ist, sich in den politischen Prozess zu integrieren, wie sie bei den Wahlen im Januar 2006 gezeigt hat, aus denen sie als Sieger hervorgegangen ist. Sie hat nichts zu tun mit terroristischen Organisationen wie al-Qaida oder der ägyptischen Jama`at al-Islamiya, wie die verbreitete Kategorisierung “radikal-islamistisch” evoziert.[3] Im Gegenteil wurde die HAMAS immer wieder von der al-Qaida auf deren Websites angegriffen, weil sie angeblich durch ihre Kompromissbereitschaft, ihren Pragmatismus und vor allem die Beteiligung an der Wahl zum palästinensischen Legislativrat die Prinzipien des Islam hintergangen hätte. Die de-facto-HAMAS-Regierung im Gazastreifen soll den ägyptischen Behörden sogar Qaida-Mitglieder, die von Ägypten nach Gaza geflohen waren, ausgeliefert haben – einer der Gründe, warum die Ägypter in der Tunnelfrage immer wieder die Augen zudrückten.[4]


2004 durch Raketenangriff getötet – 
Hamas-Gründer Scheich Ahmad Yasin
Quelle: NRhZ-Archiv
Zweitens: Aufgrund regionalpolitischer Konstellationen, vor allem im Verhältnis zu Israel, gibt es sicherlich gemeinsame Interessen zwischen Hizbu Allah und HAMAS. Von einer von Iran gesteuerten Achse zu sprechen, ist jedoch völlig überspannt. HAMAS steht moderaten sunnitischen Kräften ideologisch und politisch sehr viel näher als dem schiitischen Islamismus iranischer Prägung. In anderen Regionalkonflikten – zum Beispiel in der Irakfrage – haben HAMAS und Hizbu Allah große Differenzen und sind in völlig verschiedene regionale Allianzen eingebunden. HAMAS ist aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen – wie übrigens die Fatah in den 50er Jahren auch. Die Muslimbruderschaft lehnt außer als Form des Widerstandes gegen Besatzung und Fremdherrschaft Gewalt als Mittel der Politik ab und ist in vielen arabischen Parlamenten (Ägypten, Jemen, Sudan, Kuwait, Bahrain, Irak, Algerien) und einigen arabischen Regierungen (Irak, Algerien, die somalische Übergangsregierung) vertreten, im Irak stellt sie mit Tariq al-Hashimi sogar den stellvertretenden Präsidenten.
 
Auch militante Kräfte wie in der Fatah
 
Drittens: Sowohl in der HAMAS wie auch in der Fatah gibt es militante Kräfte, die dem bewaffneten Kampf gegen die Besatzung Priorität einräumen, und politisch-pragmatische Flügel, die Verhandlungen vorziehen. Auch in der Fatah-Führung gibt es einen Flügel, der die Oslo-Verträge und die Road-Map ablehnt, weil sie die Palästinenser in eine Sackgasse geführt hätten, die nur der Stabilisierung der Besatzung der Westbank gedient habe. Dies ist z.B. die Position des Vorsitzenden des politischen Komitees der PLO und Mitglied des Zentralkomitees der Fatah, Faruq al-Qaddumi.[5] Die Tatsache, dass nie so viele jüdische Siedlungen in der Westbank gebaut wurden wie während des Oslo-Prozesses, macht die Argumentation Qaddumis glaubwürdig. Denn während über die Gründung eines palästinensischen Staates verhandelt wurde, wurden die infrastrukturellen Voraussetzungen dieses Staates systematisch zerstört. Niemand würde Qaddumi deswegen als Extremisten bezeichnen oder seinen Rücktritt fordern. Gleichzeitig wurde mit dem Argument, die HAMAS lehne die Osloer Verträge und die Road-Map ab, der HAMAS jahrelang die Aufnahme in die PLO verweigert, während die internationale Staatengemeinschaft ihr die Regierungsfähigkeit absprach.
 
Viertens: Der Konflikt zwischen der Fatah und der HAMAS ist vor allem ein politischer Konflikt um Macht. Jahrelang beanspruchten Teile der Fatah ein Monopol auf die Führung des palästinensischen Volkes (in der PLO und in der Autonomiebehörde). Kleineren Organisationen wurde nur die Rolle eines Juniorpartners zugestanden.
 
Fünftens: Der Konflikt zwischen der HAMAS und der Fatah ist vor allem Ausdruck der erwähnten Sackgasse des Friedensprozesses. Die Kritik der HAMAS an der Verhandlungsführung der Autonomiebehörde und der Kooperation der palästinensischen Sicherheitsorgane mit der Besatzungsmacht – die ja den Ausschlag für die Ausschaltung der von Muhammad Dahlan geführten Preventive Security im Gazastreifen gab – wird auch von anderen politischen Organisationen und Teilen der Fatah geteilt.[6]
 
Nichtanerkennung durch USA und EU
 
Dem 6-monatigen Waffenstillstand im Gazastreifen waren viele Dilemmata immanent, die letztlich sein Scheitern vorprogrammierten. Im Folgenden sollen diese Dilemmata benannt und die Entfaltung des Waffenstillstandes empirisch nachgezeichnet werden, um so zu einer differenzierteren Diskussion über die Verantwortung des Bruchs dieses Waffenstillstandes beizutragen. Eine solche Bestandsaufnahme ist dringend notwendig, damit zukünftiges Konfliktmanagement nicht dieselben Fehler wiederholt. Es gibt sicherlich viele andere Faktoren und Akteure, die zu der Krise beigetragen haben: die innerpalästinensischen Differenzen, die schon erwähnte Sackgasse des Friedensprozesses, die Nichtanerkennung der HAMAS-Regierung durch die USA und die Europäische Gemeinschaft, um nur einige zu nennen. Diese wurden an anderer Stelle diskutiert und müssen sicherlich weiter diskutiert werden. Insofern beansprucht das folgende Papier keinen Anspruch auf eine vollständige Krisenanalyse, sondern will nur exemplarisch an einem Punkt Anstoß zu einer Debatte geben.[7] (PK)
 
[1] Zitiert nach Avi Shlaim, The Iron Wall – Israel and the Arab World. London (Allen Lane The Pinguin Press) 2000. S.21
[2] HAMAS ist die Abkürzung für harakat al-muqawama al-islamiya (Islamische Widerstandsbewegung)
[3] Siehe zur Geschichte der HAMAS u.a. Helga Baumgarten: HAMAS – Der politische Islam in Palästina. München (Heinrich Hugendubel Verlag) 2006; Beverly Milton-Edwards: Islamic Politics in Palestine. New York (I.B.Tauris) 1999; Joseph Croituru: Hamas – Der islamische Kampf um Palästina. München (C.H.Beck) 2007; Azzam Tamimi: Hamas – Unwritten Chapters. Lond (C.Hurst & Co.) 2007.
[4] Jeremy M.Sharp: The Egypt-Gaza Border and its Effect on Israeli-Egyptian Relations. Congressional Research Service. February 1, 2008.
[5] Qaddumi erklärte in einem Interview mit der Fatah-nahen Zeitschrift al-Sabah noch im Dezember 2008, dass die Verträge von Oslo im Widerspruch zu den nationalen Rechten der Palästinenser ständen. Jaridat al-Sabah, 9.12.2008.
[6] Zu dem Versuch Dahlans, mit amerikanischer und ägyptischer Unterstützung gegen die gewählte HAMAS-Regierung zu putschen siehe die detaillierte Recherche von David Rose: The Gaza Bombshell. In: Vanity Fair, April 2008.
[7] Siehe z.B. Muriel Asseburg: Nach den palästinensischen Parlamentswahlen: Wie mit HAMAS umgehen? Berlin (Stiftung Wissenschaft und Politik), Februar 2006. (swp aktuell 8). Dieselbe: Hamastan vs. Fatahland- Fortschritt in Nahost? Berlin (Stiftung Wissenschaft und Politik) Juli 2007, (swp aktuell 35). International Crisis Group: Enter HAMAS: The challenges of Political Integration. Middle East Report No. 49. 18 January 2006. Nathan J. Brown: The Road out of Gaza. Carnegie Policy Outlook No. 30, February 2008. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Mehr aus dieser Untersuchung von Ivesa Lübben ist unter http://www.palaestina-heute.de/Themen/Gaza-Krieg/Lubben__Hintergrunde/lubben__hintergrunde.html zu lesen.

Hierzu auch der Filmclip in dieser NRhZ-Ausgabe zum Thema "Pressefreiheit" in Israel
 
Ivesa Lübben ist Politologin und Journalistin. Sie arbeitet über islamistische und andere soziale Bewegungen sowie Reformprozesse in der arabischen Welt. Während der ersten Intifada war sie im Gazastreifen und hat über ihre Erlebnisse gemeinsam mit Käthe Jans in dem Buch Kinder der Steine, das 1988 bei rororo erschienen ist, berichtet. Neuere Veröffentlichungen: Junge Islamisten imCyberspace – Die Bloggerszene der Muslimbrüderjugend. In: INAMO, Nr. 55, Jahrgang 14, Herbst 2008; Die ägyptische Muslimbruderschaft – auf dem Weg zur politischen Partei? In: Holger Albrecht und Kevin Köhler. Politischer Islam im Vorderen Orient – Zwischen Sozialbewegung, Opposition und Widerstand. Baden-Baden, 2008; Das Erwachen der ägyptischen Arbeiterbewegung. In: INAMO, Nr. 49, Frühjahr 2007; “Der Islam ist die Lösung” ? – Moderate islamistische Parteien in der MENARegion und Fragen ihrer politischen Integration. (hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung), Sankt Augustin, 2006. Sie promoviert zurzeit über den Gründer der Muslimbrüder, Hassan al-Banna.

Online-Flyer Nr. 186  vom 25.02.2009



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