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Literatur
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ – letzte Folge (45)
Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben
Von Wolfgang Bittner

Der Protagonist Erich Wegner arbeitet nach Abschluss der Schule im Tiefbau, aber in ihm reift allmählich der Entschluss, seine Situation zu verändern. Er holt das Abitur nach, beginnt Jura zu studieren und absolviert erfolgreich eine akademische Laufbahn. Eine verheißungsvolle Zukunft scheint vor ihm zu liegen, doch seine Hoffnungen und Erwartungen erfüllen sich nicht; sie werden durchkreuzt von seinen Vorstellungen von einem humanen und selbstbestimmten Leben in einer sozialen Gesellschaft. Er überlegt, fortzugehen, neu anzufangen. Es bleibt die Frage, ob Wegner jemals eine echte Chance hatte.

der aufsteiger wolfgang bittner horlemann-verlag cover
                                                   
Außer bequem als Buch im Horlemann-Verlag können Sie exklusiv in der NRhZ die überarbeitete Neuausgabe von Wolfgang Bittners 1978 erstmals erschienenen Roman „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“ lesen – eine Rezension des Werks finden sie in der NRhZ 139: „Ein Roman über einen ‚Helden’ von unten, aus der Sicht von unten und deshalb wichtig für alle – und sogar mit nicht allzu viel Fantasie lässt sich auch der Roman auf heutige Verhältnisse übertragen.“, schreibt Rezensent und Buchhändler Uli Klinger über „Der Aufsteiger“.



16) Wieder in Salstädt (Fortsetzung, letzte Folge)

Als er den Gastraum betrat, sah er einige alteingesessene Salstädter an der Theke stehen, verspürte aber kein Bedürfnis, sich mit ihnen zu unterhalten. Stattdessen setzte er sich wieder an seinen Tisch am Fenster und bestellte ein Bier.

Draußen begann es bereits dunkel zu werden. Hannelore wischte den Tisch ab, bevor sie das Bier vor ihn hinstellte. Außerdem legte sie ihm die Zeitung hin, das „unabhängige und überparteiliche“ Salstädter Tageblatt, über das er sich jeden Tag aufs Neue ärgerte.

Auf der ersten Lokalseite wurde eine erneute Erhöhung der Stromtarife eingehend gewürdigt und gerechtfertigt. Davon, dass die Stromkonzerne Riesengewinne verbuchten und die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten besonders stark betroffen waren, weil Großabnehmer Vorzugstarife erhielten, las man kein einziges Wort. Kritik wurde überhaupt nur laut in einem Kommentar auf der Titelseite, der sich schon mit der Überschrift „Ausverkauf deutscher Interessen“ gegen die auf Verständigung ausgerichtete Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition wandte und in dem der ehemalige Bundeskanzler und Altnazi Kiesinger als Experte zitiert wurde. Ein Feuilleton oder einen Kulturteil gab es nicht. Nur eine Seite mit albernen Witzchen und langweiligen Plaudereien. Fast der gesamte übrige Teil handelte von Verkehrsunfällen, silbernen und goldenen Hochzeiten und von einem Schützenfest in der näheren Umgebung. Ein großformatiges Foto zeigte den „König Gerd“ und die „Königin Beate“.

Seine Mutter hatte erzählt, dass Franz Kruse nicht mehr da war. Man hatte ihm gekündigt, nachdem das Tageblatt von einem großen Zeitungskonzern geschluckt worden war. Angeblich war Franz nach einem Arbeitsgerichtsprozess, den er verloren hatte, zu einer Tageszeitung in Süddeutschland gegangen. Schade, bestimmt hätten sie sich heute mehr zu sagen als früher.
Er trank sein Bier aus und ging hinauf in sein Zimmer. Bett, Kleiderschrank, Schreibtisch, Stuhl; auf dem Schrank sein Koffer.

Es gab sogar ein Radio, das er anstellte. In den Nachrichten wurde von schweren Kämpfen in Vietnam berichtet und dass der amerikanische Außenminister Kissinger die Möglichkeit einer militärischen Intervention gegen arabische Ölländer angedeutet habe. Dann sang Nana Mouskouri: „Weiße Rosen aus Athen, sagen dir: komm recht bald wieder ...“ Er holte den Ulysses von James Joyce aus dem Koffer, in dem er seit längerem las, legte sich damit aufs Bett und stellte das Radio aus. Doch die Lektüre ermüdete ihn, wie immer, und er nickte kurz ein.

Anschließend vermochte er den Lebensäußerungen von Leopold Bloom, der so gern geröstete Hammelnieren aß, die seinen Gaumen einen schwachen Uringeschmack empfinden ließen, nicht mehr zu folgen. Hatte nicht der Psychologe C. G. Jung gesagt, man könne Joyce ebenso gut von hinten wie von vorn lesen? Er legte das Buch beiseite, ging wieder hinunter und ließ sich noch ein Bier kommen.

Es war bereits nach elf, und die meisten Gäste waren schon gegangen oder hatten gerade ihre Rechnung bezahlt. Der Gastraum war verqualmt, es roch nach abgestandenem Bier. Hannelore räumte noch ein paar Gläser ab, dann zog sie die Gardinen zu und setzte sie sich zu ihm. Sie schien bereits angetrunken zu sein.

„Kummer?“, fragte sie. „Du siehst so trübsinnig aus. So traurig.“ Verhärmt, dachte er, und verbittert. Lina Haffner fiel ihm ein.
Was sie wohl machte? Ob sie inzwischen verheiratet war? „Ich glaube, du brauchst was Kräftiges“, sagte Hannelore und holte eine Flasche Korn von der Theke.
„Gib uns mal auch noch einen!“, rief einer der beiden Männer vom Nebentisch ihr zu. Sie bediente die beiden, obwohl sie bereits ziemlich betrunken waren, und kassierte gleich ab. Auf das Ansinnen, einen weiteren Schnaps auszugeben, ging sie nicht ein.

Wieder an seinem Tisch, schenkte sie ihm und sich einen doppelten Korn ein, wobei sie ihm, für die anderen Gäste nicht wahrnehmbar, liebevoll über die Hand strich. „Auf dein Wohl“, sagte sie.

Die beiden Betrunkenen rüsteten sich endlich zum Aufbruch.
Der eine erhob sich schwankend und kam herüber. „Eh du“, lallte er, „kannst mal einen ausgeben.“ „Lass bloß meine Gäste zufrieden!“, wies Hannelore ihn scharf zurecht, worauf er einen Schritt zurücktrat. „Schöne Gäste“, lallte er breit grinsend. „Ja ja, was so ein Doktor ist, das ist ein ganz besonderer Gast.“ Man wusste also genau Bescheid. In so einer Kleinstadt sprach sich alles wie ein Lauffeuer herum. Er beachtete den Mann nicht weiter und sagte Hannelore, sie solle ihn reden lassen. Doktor, dachte er, was ist das schon? Was nützt mir das jetzt? Wer nimmt schon einen Bauhilfsarbeiter mit Doktortitel? Womöglich hetzte er die Arbeiter auf oder schrieb solche Reportagen wie der Wallraff.

Oder er war ein kommunistischer Agent. Andere Möglichkeiten gab es praktisch gar nicht. Gut, dass er seinen alten Personalausweis noch hatte, in dem sein Name ohne den Doktortitel stand.

Hannelore legte den beiden Betrunkenen, die sich wieder gesetzt hatten, nahe, nach Hause zu gehen. „Ihr habt den Kanal voll!“, schimpfte sie. „Morgen könnt ihr wieder nicht aus den Augen gucken!“ Die beiden erhoben sich langsam und gingen zur Tür. Als der eine an Hannelore vorbeikam, die sich beim Gläserabräumen über einen Tisch beugte, versuchte er ihr unter den Rock zu greifen, worauf sie sich umdrehte und ihm eine knallte. „Haltet euch an eure Weiber!“, fuhr sie ihn an. „Die warten schon! Passt mal auf, heute blüht euch noch was!“ Die beiden torkelten hinaus, und sie schloss die Tür ab und löschte die Außenbeleuchtung. Es war schon nach zwölf. Sie seufzte. „Wie mich diese Kerle ankotzen! Manchmal kommen die erst um zwölf besoffen hier an, und ich kann mich dann für zwei Bier mit denen abplagen.“

Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete sie unauffällig beim Abräumen des Nachbartisches. Das Haar fiel ihr strähnig ins Gesicht. Sie sah abgespannt aus. Kein Wunder, morgens um halb sieben ging es bei ihr schon los, weil die Kinder zur Schule mussten. Dann machte sie Frühstück für eventuelle Hotelgäste, danach wurden die Zimmer gereinigt, um elf Uhr öffnete sie das Lokal und in der kurzen Pause von zwei bis vier fuhr sie in den Supermarkt zum Einkaufen.

Ich muss mich mal richtig mit ihr unterhalten, wenn sie vollkommen nüchtern ist, dachte er. Allein fertig zu werden, ist nicht einfach für sie, vor allem in so einem Beruf. Jemand, der ihr helfen und mit dem sie sich aussprechen könnte, wär schon das Beste für sie.
Aber womöglich hoffte sie, er würde in Salstädt bleiben. Man wusste nie, was Frauen wie Hannelore oder Marianne sich ausdachten.

Marianne. Sie saß jetzt wahrscheinlich bei ihren Eltern in Stuttgart und ließ sich trösten. Er wischte die Gedanken an sie, die ihn gleich wieder zu bedrängen begannen, fort. Am besten, er schaffte klare Verhältnisse. Diese Ehe war eine dauernde Belastung, sie raubte ihm die Lebensenergie. Er nahm sich vor, in der nächsten Woche die Scheidung einzureichen.

Hannelore schenkte noch einmal nach.
„Prost“, sagte er. „Diesmal auf dein Wohl, Frau Wirtin.“ „Frau Wirtin hatt‘ auch einen Doktor ...“, kicherte sie und kippte den Schnaps in einem Zug herunter.
„Bist ein nettes Mädchen“, sagte er und zündete sich eine neue Zigarette an.
„Woll‘n wir nicht langsam ins Bett?“, fragte sie und sah ihn aus verhangenen Augen an.

„Ach, lass uns mal noch einen zur Brust nehmen“, entgegnete er mit schwerer Zunge. „Ich hab noch nicht die nötige Bettschwere.“ Sie lachte. „Schwer sollst du ja auch nicht sein.“ Während sie den rechten Arm um seinen Hals schlang und ihren Stuhl heranrückte, goss sie mit links nach.

Hoffentlich finde ich in den nächsten Tagen eine Stelle, dachte er. Natürlich war das alles nichts weiter als ein Weglaufen vor dieser kaputten Gesellschaft hier, vor dieser miesen Politik und vor dieser ganzen Zivilisationsmisere, die ihm immer unerträglicher wurde. Berufsverbote, Gesinnungsschnüffelei, Korruption, Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, polizeiliche Gewaltaktionen, Umweltzerstörung, Energiekrisen, Wirtschaftskrisen ...Aber was sollte man machen? Der eine hängt sich auf, der andere passt sich an, der Dritte flippt aus oder haut ab. Vielleicht half es, wenn man mal Abstand bekam, neue Menschen kennenlernte, neue Ansichten und Lebensgewohnheiten. Zurückkommen konnte er immer noch. Und auch eine Anwaltspraxis konnte er immer noch aufmachen. Das lief ihm nicht weg.

Hannelore rutschte auf seinen Schoß und legte ihre Arme um seinen Hals. „Du bist so herrlich traurig heute“, sagte sie. „Und so tiefsinnig. Und so klug schaust du aus. Dass man fast meint, du wärst irgendein hohes Tier. Aber dafür bist du viel zu lieb.“ Sie küsste ihn und öffnete seine Hose, fast zärtlich.

Eigentlich müsste man ja dieses ganze Kroppzeug von Mönkebergs, Lehmanns und Aschbrenners hier in die Luft sprengen, dachte er. Ihnen mal einen richtigen Denkzettel verpassen. Dieser ganzen Bagage mal zeigen, dass sie nicht machen kann, was sie will, dass es auch Widerstand gibt. Richtigen, ernst zu nehmenden Widerstand, nicht nur dummes Gerede und Blabla.

Auf der Straße grölten ein paar Betrunkene. Im Vorbeigehen pochten sie gegen die Fensterscheiben, dass man meinte, sie müssten zerspringen.

Etwas tun, dachte er, so wie diese Baader-Meinhof-Gruppe.
Aber arbeiteten diese Typen nicht eher der Reaktion in die Hände? Ließ sich denn mit Gewalt eine gesellschaftliche Veränderung bewirken? Würde er einen Mord in Kauf nehmen wollen? Waren so etwas nicht Hirngespinste, geboren aus seiner politischen Unmündigkeit und aus seiner persönlichen Unsicherheit? Wäre es nicht besser, nach Möglichkeiten einer Veränderung auf politischem Wege zu suchen und das natürlich zusammen mit anderen? Da gab es doch viele, denen es ähnlich ging wie ihm. Lag es nicht an ihm selber, dass er isoliert war? Hätte er sich nicht mehr, viel mehr, um Kontakte zu politisch Gleichgesinnten bemühen müssen? Vielleicht sollte er sich in den Zug setzen und Franz Kruse besuchen. Oder er sollte ausfindig machen, wo Hartmut Kolossa jetzt wohnte. Seine Gedanken liefen im Kreis.

Hannelore streichelte sein Haar und rutschte auf seinen Schoß.
Er merkte, dass sie keinen Schlüpfer mehr anhatte. „Nun komm doch endlich“, sagte sie.
„Gleich“, entgegnete er und zog sie zu sich heran. Ihr Gesicht erschien ihm plötzlich schön. „Ich hab dich sehr gern, Hannelore“, murmelte er.
„Meinst du das ernst?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete er, und ihm wurde bewusst, dass er die Wahrheit sagte.

Sie drängte sich an ihn und er fühlte ihre Lippen auf seinem Mund. Aber durch seinen Kopf gingen immer noch tausend Gedanken auf einmal, die er nicht zu fassen vermochte. Alles verwirrte sich immer wieder. Was war richtig, was war falsch? Er kriegte das nicht in den Griff. Vielleicht wurde er langsam verrückt, und das waren die ersten Anzeichen dafür. Ich muss raus aus dieser verkorksten Existenz, dachte er. Erstmal weit weg und Abstand gewinnen. Vielleicht kann man noch einmal ganz von vorn anfangen. Alles hinter sich lassen, was war, und völlig neu beginnen. Sich selber neu gebären.


Wir hoffen, dass Sie an der Lektüre von „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“ Ihre Freude gehabt haben. Die einzelnen Folgen finden Sie über das Archiv der NRhZ – beispielsweise über die Suchleiste.
Selbstverständlich lässt sich der Roman wesentlich bequemer als gebundenes Buch lesen. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an Wolfgang Bittner und den Horlemann Verlag für die Möglichkeit zur Veröffentlichung. Die Redaktion.
(CH)

© 2008 Horlemann
Alle Rechte vorbehalten
Überarbeitete Neuausgabe – Erstveröffentlichung 1978
Büchergilde Gutenberg, Satz und Umschlaggestaltung Verlag.
Bitte fordern Sie das Verlagsverzeichnis an, unter:
Horlemann Verlag, Postfach 1307, 53583 Bad Honnef,
Telefax 02224 5429, E-Mail: info (at) horlemann-verlag.de
www.horlemann.info


 
Wolfgang Bittner Foto: Andreas Neumann arbeiterfotografie
Foto: Andreas Neumann              
Wolfgang Bittner, Jahrgang 1941, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Der promovierte Jurist schreibt für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Er erhielt mehrere Literaturpreise, ist Mitglied im PEN und Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Er hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht, u.a. die Romane „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“, „Niemandsland“ und „Flucht nach Kanada “, den Erzählband „Das andere Leben“ sowie das Sachbuch „Beruf: Schriftsteller“.


Online-Flyer Nr. 184  vom 11.02.2009

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