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Arbeit und Soziales
Die Leiharbeit boomt seit Jahren auf Kosten fester Beschäftigung
Die ersten müssen gehen
Von Berthold Paetz

Es war ein Durchbruch nach jahrelangem Streit: In der vergangenen Woche hat das EU-Gesetz zur Leiharbeit eine wichtige Hürde im Europaparlament genommen. Im Ausschuss für Arbeit und Soziales stimmte eine deutliche Mehrheit für einen Text, nach dem Leiharbeiter grundsätzlich vom ersten Tag an die gleichen Rechte wie ihre fest angestellten Kollegen bekommen sollen - sofern Gewerkschaften und Arbeitgeber auf nationaler Ebene nichts anderes vereinbar haben.

In Zeiten, in denen die Zahl der Leiharbeiter steil ansteigt, mag eine solche Meldung den im Schnitt um ein Viertel geringer bezahlten Beschäftigten Hoffnung machen. Viele Mitarbeiter von Zeitarbeitsfirmen haben derzeit aber andere Probleme: Vor allem im Automobilsektor wurden in den vergangenen Tagen Produktionspausen eingeläutet. Von den Konzernen wird dies meist mit den Auswirkungen der internationalen Finanzkrise begründet. Absatzsorgen hat die Branche freilich schon länger. Wenn auch die Gründe für die Schwierigkeiten umstritten sein mögen, die ersten Verlierer stehen schon fest: die Leiharbeiter.

Während etwa die Produktionspause bei BMW in Leipzig nach Unternehmensangaben keine Konsequenzen für die Festangestellten haben wird, gibt der Konzern für Leiharbeiter keine Garantien ab. Ford hat in Saarlouis mehr als 200 Zeitbeschäftigte zwei Monate früher entlassen als ursprünglich geplant. Und der Bremsenhersteller Knorr will wegen des Auftragsrückganges beim LKW-Geschäft Leiharbeitsverhältnisse nicht mehr verlängern.

Heute arbeiten bundesweit mehr als doppelt so viele Menschen in der Zeitarbeitsbranche als noch vor zehn Jahren - zum Jahreswechsel 2007/2008 waren es 721.000 Beschäftigte. Im September präsentierte die Bundesagentur für Arbeit neue Zahlen - und verkaufte ihre Erkenntnisse als Erfolg gelungener Reformen auf dem Arbeitsmarkt. Und wieder wurde in Nürnberg betont, dass Zeitarbeit eine Chance für Erwerbslose, Berufseinsteiger und Jobrückkehrer darstelle.


Die ersten müssen gehen ...

Dass Zeitarbeit in gewissem Umfang durchaus das Zeug dazu hat, solchen Personengruppen einen ersten Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, steht außer Frage. Insgesamt hatten 66 Prozent aller neu Eingestellten in der Branche unmittelbar davor keinen Arbeitgeber, dreizehn Prozent waren sogar über ein Jahr arbeitslos. Abgesehen von schwarzen Schafen, die ihre Beschäftigten mit jenen Niedrigtarifen abspeisen, die die umstrittene Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften CGZP abgeschlossen hat, zahlen schließlich auch viele Unternehmen in der Branche normale Tariflöhne.

Indirekt nährt Nürnberg in dem Erfolgsbericht aber selbst Zweifel daran, dass der starke Zuwachs bei der Leiharbeit allein auf organisches Wachstum gegründet ist. Sicher gilt die Zeitarbeit als konjunktursensitiv, in Phasen wirtschaftlicher Belebung wird hier früher als in allen anderen Branchen eingestellt. Wenn das Plus zeitweise aber gut Dreiviertel des gesamten bundesweiten Beschäftigungszuwachses auf sich vereint, ist eine Verdrängung von Festangestellten in größerem Maßstab sehr wahrscheinlich.

Der Boom der Leiharbeit weist auf eine gestörte Balance hin: Zwar wurde in der Leih-Branche schon immer schlechter bezahlt als bei regulären Beschäftigungsverhältnissen. Dennoch war es für Firmen ziemlich teuer, Beschäftigte auszuleihen. Die Entleiher schlugen ihre Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, die Nebenkosten und eine Gewinnmarge auf den Ausleihpreis. Ein wirtschaftlicher Nutzen ergab sich auf diese Weise fast nur, wenn Auftragsspitzen abgefedert werden mussten, Personal vertreten werden sollte oder praxisnahe Testläufe anstanden. Je nach Qualifikation und Entlohnung der Ausgeliehenen war spätestens nach einem Dreivierteljahr deren Übernahme in eine Festanstellung billiger für die Unternehmen.

Das passiert heute zwar immer noch. Andererseits aber werden immer mehr Leiharbeitnehmer auch über längere Perioden hinweg in ein- und dasselbe Unternehmen ausgeliehen. Das kann nur eins bedeuten: Viele Löhne in der Zeitarbeitsbranche sind heute so niedrig, dass den Entleihfirmen trotz der in Rechnung gestellten Preise unter dem Strich Kostenvorteile bleiben.


...damit sie später billiger werden.

Zwar plädieren die großen Zeitarbeitsfirmen und ihre beiden Spitzenverbände BZA und IGZ für einen faktischen Mindestlohn - über die Aufnahme der Branche in das Entsendegesetz zu den Konditionen ihres mit der DGB-Tarifgemeinschaft abgeschlossenen Tarifvertrages. Auf diese Weise käme auch eine Flurbereinigung des Marktes zustande. Auf der anderen Seite aber fügt sich eine stille aber sehr wirksame Allianz von Arbeitgeberverbänden, Union und FDP gegen eine Lohnuntergrenze.

Die DGB-Gewerkschaften sehen sich deshalb nach wie vor unter Zugzwang. Bereits im Juli veröffentlichte der Dachverband eine Broschüre, in der Zeitarbeit nicht verteufelt, aber erneut ein Branchenmindestlohn reklamiert wurde. Im September legte nun die IG Metall mit einem "Schwarzweißbuch Leiharbeit" nach. Gewerkschaftsvize Detlef Wetzel bezeichnet die darin dokumentierten Missbrauchsfälle als Skandal. "Wir klagen aber nicht nur an, wir handeln. Wir wollen zeigen, dass es möglich ist, Leiharbeit fair zu gestalten", sagt Wetzel - und verweist auf "Besser-Vereinbarungen" in einzelnen Betrieben, die quasi per Häuserkampf erreicht werden konnten.

Bisher hat die IG Metall bereits 380 dieser "Besser-Vereinbarungen" abgeschlossen, 180 mehr als für dieses Jahr geplant. "Rund 100 weitere Vereinbarungen sind in Vorbereitung", so Wetzel. In den 380 Betrieben sind etwa 27 Prozent aller Arbeitnehmer der Metall- und Elektroindustrie beschäftigt.

Der Einsatz zahlt sich für die Gewerkschaft auch organisationspolitisch aus. Unter den Leiharbeitern hat die IG Metall bisher etwa 9.000 neue Mitglieder gewonnen. (HDH)

Der Artikel erschien in der Zeitschrift „Freitag" vom 16.10.08 
Anm.: Das Anreißerbild stammt von Gerd Altmann, pixelio

Online-Flyer Nr. 170  vom 29.10.2008



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