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Ausflüge in die Geschichte - Teil 5
Alltag, Arbeit, Abendmesse
Von Harry Böseke

Wenn eine Geschichte mit A beginnt, dann beginnt sie in der Regel mit Arbeit. Daß dieses Buch aber alles andere als langweilig, monoton oder auch nur annähernd alltäglich ist, dafür sorgen die Erzähler der Geschichten, denen gemeinhin bei Abendmessen äußerst still zugehört werden.

Abendmessen? - Die Messe in Leipzig kennt man, in Köln die Anuga und die Buchmesse in Frankfurt. Aber Abendmesse? So nannten die Steinkühler in unseren Dörfern den Gang nach getaner oft 12stündiger Arbeit in die nächstgelegene Wirtschaft. Da hieß es dann Buße zu tun oder einfach nur fröhlich beieinander zu sitzen. Ihre Frauen sahen das nicht so gerne. So ist auch ein wohlbehütetes Geheimnis in manchen "Steenkühler"-Dörfern, daß diese mit den Lohnzahlern der Steinwerke unter einer Decke steckten - bitte nicht wörtlich zu nehmen! Das ist nichts sittenwidriges, aber es ist etwas, was sehr wirkungsvoll war in früherer Zeit...denn die Wertmarken, Talons, galten im nachbarschaftlichem Kolonialwarenladen, nicht aber im Lokal gegenüber...

Haus der Geschichten in Müllenbach
Haus der Geschichten in Müllenbach
Foto: Archiv Haus der Geschichten



Drehen wir das Rad der Geschichte ein Jahrhundert zurück. 3500 Steinarbeiter sind in den vielen Steinbrüchen des Oberbergischen tätig, dabei ist das große Steinmetz-Anwesen Lindlar nicht einmal dazu gerechnet. Das Ruhrgebiet wird wegen der explosionshaftig wachsenden Industrie mit Schwerverkehrsstraßen versorgt, und die bergische Grauwacke ist ein idealer Stein dafür, das Wuppertal wird mit leistungsfähigen Straßen versorgt, Köln hat den Mauerring seines Mittelalters gesprengt und den Baumboom entdeckt... Da werden Arbeitskräfte zum Fertigen von Pflastersteinen gebraucht!

Viele von ihnen stammen aus Norditalien, sind "Südtiroler", oder "Italiener"... sie wissen es selber nicht so genau. 1897 wurden die ersten Anwerbebüros der bergischen Steinindustrie in Udine eingerichtet. Italiener kannten sich in der Regel aus - in den Steinbrüchen des Marmors, aber auch in der Rotte, beim Bahnbau. Und Bahnen brauchte man gerade für den Transport der Steine. Erst mit dieser Möglichkeit des Transportes wurde die "heimische Grauwacke" wettbewerbsfähig, vorher, der Weg mit Karren bewältigt, galt der "bergische Marmor" als zu teuer. Da kamen die Italiener gerade recht. Die ersten Gastarbeiter also ausgerechnet im fernab gelegenen Bergischen Land? Nun. Fernab sicher nicht. Diese Region lag im Zentrum vieler namhafter Verkehrswege und daß die Heidenstraße und die Bergische Eisenstraße in Marienheide kreuzten, das hatte seinen Grund. Man mußte hier tatsächlich über "alle Berge"...

Und da war Luigi, der mit Emil und seiner Stute "Lina" nach Köln fuhr, um Stockfisch zu holen für sich und seine Leute. Stockfisch wurde im Laden nebenan verkauft. Er galt als Delikatesse. Und so geschah es, da Luigi auf dem Weg in Richtung Herkenrath - noch vor der Höhe - zu dem wortkargen Emil sagte: "Es regnet. Nirgendwo regnet es so viel wie hier!" Emil erwiderte nur kurz - die Pfeife blieb im "mule stecken": "Ja, ja, das Wasser kennt seinen Weg wie wir Fuhrleute. Es läuft immer den Berg hinab!"

Steinbruch im Oberbergischen
Steinbruch im Oberbergischen
Foto: Archiv Haus der Geschichten



Das brachte Luigi auf, so eine "Weisheit". Er sagte vernehmlich: "Ich kenne hinter Overath eine Stelle, da läuft das Wasser den Berg hinauf!" - Emil wäre fast die Pfeife aus dem Mund gerutscht. Sein Schimpfen, immer wieder unterbrochen durch Luigis bissige Erwiderungen, konnte man auf der folgenden Strecke eine ganze Weile hören. "Nee!" sagte Emil nur kurz. Als sie nun endlich an besagter Stelle ankamen, sagte Emil wiederum kurz: "Nun?", und Luigi mußte gestehen, daß er auch hier das Wasser den Berg hinab fließen sah. "Aber", ergänzte er mit seinem unverwechselbaren Griemeln, "was hätten wir nur getan, die ganze Zeit, wenn wir uns nicht gestritten hätten!?"

Nun kamen sie in Köln an und Emil wußte, daß sie an diesem Tag nicht wieder nach Hause kommen würden. "Wir müssen uns eine Herberge suchen!" Wie Weihnachten! klang es bei Luigi an. "Herberge!" Dieser Bauer würde kaum einen Pfennig für eine Nachtstätte opfern. Und da er so geizig war, stichelte Luigi: "Ich habe von einem Haus gehört, da könne man für einen Groschen über Nacht bleiben!" - "Ist wohl kein Freudenhaus!" bemerkte Emil. - "Nein!, alles andere als das!" Und er führte ihn zu einem Lokal in die Altstadt von Köln. "Schmitze Ling!" lasen die Beiden. "Was heißt das?" - "Schmitzens Leinen!" sagte Luigi wissend.

Emil träumte schon von einem Leinenbett, aber als er nach der "Abendmesse" in Köln schon ziemlich angeheitert mit Luigi den Schlafraum betrat, sah er, was das nun war: ein riesiger Schlafraum, in dem Leinen gespannt waren, quer durch den Saal, die etwas Halt geben sollten an Achselhöhle und Kniekehle und mancher war schon schaukelnd am schlafen und schnarchen, laut, vernehmlich laut, und die Luft glich der in einem...nun, lassen wir den Vergleich. In diese Reihen reihten sich nun unsere beiden Berger ein, und das Erwachen kam um halb fünf Uhr in der Frühe, da wurden die Seile gelöst und alles purzelte durcheinander... "Nie wieder!" sagte daraufhin Emil, aber für Luigi war das nichts Neues. "In den Seilen hängen! so sagt ihr Deutschen doch immer!"

Nun kamen sie am nächsten Tag wieder zurück in das bergische Dorf. Martha, Emils Frau, hatte einen Widerwillen, diesen Stockfisch nun auch noch in ihrem Laden auszustellen. Aber die Italiener zahlten gut dafür. So hing sie ihn unter die Decke an einer Kordel auf. Darunter waren drei Fässer - eines mit Heringen, eines mit saueren Gurken, eines mit süßer Marmelade. Welches Fass sich ein herab fallender Stockfisch aussuchte, war bald klar. Martha zog ihn mit spitzen Fingern aus der Marmelade und streifte ihn an einem Zeitungspapier ab.

"Ihh!" vermerkte sie nur ob des unwiderstehlichen und doch so schön versüßten Geruchs. "Ihh!" Dann hängte sie ihn wieder auf. "Willst du ihn nicht abwaschen?" knötterte Emil. "Hat er nicht schon lang genug im Wasser rumgeschwommen, daß ich ihn jetzt auch noch abwaschen soll?" erwiderte Martha im bissigen Platt. Da verstummte gar Emil und ging hinüber in "DIE EICHE", neben der Friedenseiche, die deutsche Patrioten 1871 nach dem Sieg über Frankreich gesetzt hatten, und trank einen Korn und noch einen und noch einen....

Abendmesse, das war im evangelischen Dorf trotzdem ein Begriff. Die Italiener hatten ihn mitgebracht, um ihren Müttern telefgrafisch oder im Brief mitzuteilen: Mutter, mir geht es gut. Heute, am Sonntag habe ich zwar lange geschlafen. Aber ich gehe ja in die Abendmesse!" Und diese Ausrede der italienischen Arbeiter hatte Emil sich mittlerweile zueigen gemacht... Das war etwas, was man aus dem Italienischen "gut" übersetzen konnte.

Steinkuhle bei Lindlar
Steinkuhle bei Lindlar
Foto: Archiv Haus der Geschichten



Ein kleines Geheimnis noch am Rande. Im Henkelmann nahm der Steinkühler jeden Tag Steine mit aus dem Bruch, sozusagen als Deputat. Dies war die erste Tätigkeit, die er vollbrachte, diese Steine zu schlagen, paßgenau für das Essensbehältnis. So kamen im Laufe der Jahre schon viele dieser Stein "nach Hause", für den Vorgarten und die Wege am Haus. Man sieht sie heute noch, sie haben das unverwechselbare Maß, die "Henkelmann-Norm".

Der nächste Ausflug in die Geschichte: Samstag, 18. Februar, 14 Uhr, Erzählreise ab Hückeswagen, Schlossplatz: Goethe besuchte das Wuppertal mit seinem Freund, dem Philosophen, Arzt und Dichter Heinrich Jung-Stilling. Beim Gang durch die Stadt sah dieser die Bleicherwiesen und beschrieb sie als: "Mit leynen Garn wie beschneyt!" Jung Stillings-Lebensweg führte auf der Suche nach Arbeit aus dem Siegerland kommend fast immer an der Wupper und der Bergischen Eisenstraße entlang. Diesen Weg bereisen wir mit dem PKW.

Museums-Tip: Haus der Geschichten, Museum der Alltagskultur in Marienheide-Müllenbach (www.hausdergeschichten.de)

Gasthaus-Tip: Eine typische Gastwirtschaft der "Steenkühler", der "Leute aus der Steinkuhle", war die Wirtschaft STREMME in Gummersbach-Becke, ehemals Poststaton und Wechselstation der Fuhrleute. (www.wege-zur-gastlichkeit.de)






Harry BösekeHarry Böseke ist Fernseh- und Buchautor und wurde im Jahr 2005 Rheinlandpreisträger für die Initiierung und Errichtung der Natur- und Museumsstraße des Bergischen Landes. Er ist ehrenamtlicher Leiter des "Haus der Geschichten", einem Erzählmuseum im bergischen "Bücherdorf Müllenbach", und des "Schwarzpulvermuseums" in der Pulverfabrikantenvilla OHL in Wipperfürth mit der "Bibliothek gegen das Vergessen".


Wer mehr Informationen übers Wandern im Bergischen von ihm haben will - oder auch für Anregungen und Kritik:
Tel / Fax: 02264-1567, Mail: harry@boeseke.de





Online-Flyer Nr. 31  vom 14.02.2006



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