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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Globales
Vier Tage in Gaza – dritter und vierter Tag
Ein Fest der Hoffnung – Teil 2
Von Edith Lutz

Sie waren aufgebrochen, die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen, und es war ihnen gelungen: Mehr als 45 Teilnehmer aus 15 Ländern, ganz verschiedener sozialer Hintergründe und Religionszugehörigkeit, schifften sich auf zwei ehemaligen Fischerbooten von Zypern aus ein und erreichten am 23. August den Hafen von Gaza-Stadt. Edith Lutz war eine von ihnen und berichtet in der NRhZ – in dieser Ausgabe vom dritten und vierten Tag ihres Aufenthalts – die Redaktion.

26.6. – Besuch bei „New Horizons“

Der Bus fährt Richtung Süden. Wenige Kilometer hinter Gaza Stadt hält er in Nusirat, in einer unauffälligen Straße, vor einem unauffälligen Haus. Nur eine kleine Schar wohl gespannt wartender Leute, etliche Kinder, ein paar Reporter, verrät, dass wir erwartet werden. Ein Bühnenprogramm erwartet uns in dem bunten mit Luftballons geschmückten Saal. Einige klassische Debka-Tänze werden von Kindern und Jugendlichen in stilechten Kostümen zu überlaut dröhnender Konservenmusik gezeigt, Rollenspiele und Sketche zur Problematik der Belagerung aufgeführt.

Edith Lutz – mit Rose beschenkt Foto: freegaza.org
Edith Lutz – mit Rose beschenkt                        
„New Horizons“ ist ein Programm, das Kinder und Jugendliche aus der Perspektivlosigkeit heraus zu sinnvollen Beschäftigungen führen soll, wurde uns auf dem Weg hierhin erklärt. Dem Flyer im Eingangsbereich entnehme ich, dass das Afaq Jadeeda („New Horizons“) Zentrum im Nusirat Flüchtlingslager liegt und von einer Handvoll Volontäre betrieben wird. Sie finden Unterstützung durch die Familie eines Mitreisenden, Musheir El-Farrah und seiner Freunde in Sheffield.

Die mitgebrachten Musikinstrumente lasse ich nicht hier. Wie überall im Land fehlen Lehrer. Wir sind zu früh. Wie das Faltblatt der Gaza-Stadtverwaltung berichtet, findet sich die musikalisch-kulturelle Szene erst im Aufbau oder im Status der Wiederbelebung. Ich werde die Instrumente zur Verwahrung Abed Shokry geben, einem deutschsprachigen Palästinenser. Abed, den ich an beiden Tagen begegnet bin. Er träumt von einem bilingualen Kindergarten, räumlich angeschlossen an deutsch-kulturelle Veranstaltungen. Ich fange den Traum auf, binde ihn in die Vision von „Abrahams Töchter“ ein, der therapeutischen Hilfe durch die Kunst, Musikinstrumente an Stelle von Waffen, Musiker, Künstler, die dem geschundenen Gaza zeigen können, dass Leben ist schön und lebenswert ist.

Rafah und Rachel Corrie Memorial

Je weiter wir uns Rafah nähern, je mehr bunte Waren sehen wir am Straßenrand. Schmuggelware, erklärt man uns: durch die Tunnel, zurzeit gäbe es sieben oder acht. Wir sehen, was man überall auf den Märkten sieht: Obst, Bekleidung, und viele Kanister; Kanister mit Wasser, Kanister mit Benzin. Grundnahrungsmittel sind überall im Land zu haben, aber zu überteuerten israelischen Preisen, die sich die Mehrzahl der Bewohner nicht leisten kann. Und für die Hunderttausenden aus den Flüchtlingslagern, die seit Jahrzehnten von der UNWRA „gefüttert“ werden, ist die Versorgungslage durch die verhängte Blockade bedrohlich schlecht. Waren, die man von Israel nicht kaufen kann, gibt es auf dem Schwarzmarkt, je nach Begehrlichkeit zu horrenden Preisen.

Die „Gefängnismauern“ von Rafah sind erreicht. Nicht weit davon liegt die Stelle, an der Rachel Corrie von einer israelischen Planierraupe getötet wurde, als sie sich schützend vor ein Haus stellte, das widerrechtlich abgerissen wurde: ein kleiner sandiger Erdhügel.

Beamtinnen der Passkontrolle im Gazasteifen foto: freegaza.org
Beamtinnen der Passkontrolle im Gazasteifen

Auf dem Weg zurück lernen wir das Problem der Abfall- und Abwässerbeseitigung kennen. Da die defekte Abwasseranlage aufgrund der Blockade nicht repariert werden kann, gelangen die Abwässer in offene Tümpel, die in den umgebenden Wohngebiete einen verheerenden Gestank verursachen und Krankheitserreger keimen lassen; oder die Abwässer gelangen wie in Gaza-Stadt ins offene Meer, wo sie an Stelle der frischen abendlichen Meeresbrise wahrzunehmen sind. Auf der Terrasse unseres Hotels verdeckt der angenehme Duft der Wasserpfeife den üblen Geruch.

Besuch bei Dr. Jamal El-Koudary und Kerzenlicht-Demonstration

Zum Dinner sind wir bei der recht wohlhabenden Familie Koudary eingeladen. Koudary ist Parlamentsabgeordneter und Vorsitzender des PCAS, des „Popular Committee Against the Siege“. Wir erhalten palästinensische Handarbeiten als Geschenke, danach bringt uns der Bus gemeinsam zur Gedenkstätte für die Opfer der Belagerung. Hier legen wir Kerzen nieder. Ich singe dazu ein bekanntes irisches Lied, „The Town I Loved so Well“, das heißt, die vierte Strophe, denn sie ist auf Gaza übertragbar. Ich singe zwei Versionen, eine palästinensische und eine nicht-palästinensiche:

„But when I returned how my eyes have burned                  
To see how a town could be brought to its knees       
By the armoured cars and the bombed-out doors       
And the gas that hangs on to every tree                                
Now the army’s installed by the old gasyard walls       
And the damned barbed wire gets higher and higher    
With the tanks and the guns,                                                        
Oh my God what have they done                                     
To the town I loved so well“

(„Palästinensische Version")


27.8. – Besuch der zerstörten Fabriken und Familien

Unser Bus verlässt Gaza-Stadt in Richtung Grenze, nur wenige Kilometer bergan. Als Hügellandschaft ein strategisch wichtiges Gelände. Von diesem Gebiet aus wurden Kassam-Geschosse auf die israelische Stadt Sderot abgefeuert. Wir bekommen die israelische Vergeltung zu sehen. Einschläge in fast allen Häusern, zerstörte Häuser, und vor allem zerstörte Fabriken. Ganz schlimm hat es eine Kabelfabrik getroffen, die hier gerade neu errichtet worden war. Der ehemalige Besitzer berichtet uns, seine Arbeiter hätten machtlos mit ansehen müssen, wie die Bombe gelegt wurde, die wenig später ihre Fabrik, eine der wenigen Arbeitsmöglichkeiten in Gaza, in Schutt und Asche versinken ließ.

Zerstörte Fabrik im Gazastreifen foto: freegaza.org
Eine der vielen zerstörten Fabriken im Gazastreifen

Wir fahren zu einer kleinen Farm, nicht weit von hier. Schafe, Hühner, Esel, ein friedliches Bild. Nicht so, als israelische Soldaten kamen und mordeten. Das tiefe Trauma hindert die Männer zu berichten, Frauen sehen wir nicht. Der alte Ahmed (Namen geändert) versucht es: „Zwei Söhne haben sie ermordet... und Dalia... sie war zu Besuch.... sie kam ihm zu Hilfe... sie schossen ihr in den Mund“. Wir müssen ihn in seiner Trauer alleine lassen. Wir besuchen noch eine andere Familie oder diejenige, die von ihr noch übrig geblieben ist. Mouna gehört einer wohlhabenden Familie an, man sieht es dem Schmuck an, den sie trägt. Sehr gefasst setzt sie sich auf den Stuhl vor dem großen Haus, in dem Frauen und Kinder in einem Zimmer zusammengepfercht wurden, als sie kamen und elf ihrer Familienangehörige erschossen. Ja, einer war ein „Fighter“: Jamal. Jamal gehörte das fruchtbare Land dort unten, nahe der Grenze, das sie gestohlen haben.

Es gehörte auch Ismail, Ibrahmin, Mouna und vielen anderen.

Neurologisches Krankenhaus El Wafa

Das Krankenhaus El Wafa ist eine Rehabilitationseinrichtung für Patienten mit Rückenmarksschädigungen, die in der Folge an Lähmungen leiden. Bei der Gründung vor zwanzig Jahren dachte man hauptsächlich an Unfallpatienten, heute liegen vielmehr Opfer israelischer Gewalt in den Betten. Die Anzahl des Pflegepersonals hat sich durch die Tötung einiger Pfleger verringert. Ihre Porträts hängen an der Wand des Dienstzimmers aus. Der Klinikleiter, Dr. Elessi betont, dass sie keine Kämpfer waren. Auch das Krankenhaus selbst, ein Kilometer von der Grenze entfernt liegend, ist schon häufiger unter Beschuss geraten – die letzte Invasion war vor wenigen Wochen.

Elessi, zeigt uns die Einschusslöcher in den Fenstern, die Spuren einer größeren Attacke vor wenigen Monaten. Einem couragierten gelähmten Patienten ist es zu verdanken, dass keine Menschenopfer zu beklagen sind. Er warf sich auf den Boden, hieß andere Patienten, in ihre Bettücher gewickelt, das Gleiche zu tun, und er zog sie aus der Gefahrenstelle hinaus. Vier Tankgranaten und unzählige Schüsse sind auf das Krankenhaus abgefeuert worden. Vor einigen Jahren hat ein ähnlich starker Angriff zwei Menschenleben gefordert, zwei Krankenschwestern. Zum Gedenken bleibt ein Bett immer frei. Nur ein Teil der Dienstkleidung der Schwestern befindet sich auf dem Kopfkissen.

28.8. – Abschied

Abschied vom Gazastreifen foto: freegaza,org
Abschied vom Gazastreifen                                  
Alle Fotos: freegaza.org


Der Abschied ist traurig. Wir müssen Menschen zurücklassen, die gerne mit uns gekommen wären. Die Studenten mit Stipendien an einer ausländischen Universität, die Israel nicht ausreisen lässt: den deutsch-palästinensichen Familienvater mit deutschem Pass, der vor einigen Monaten durch Rafah eingereist war, um seine kranken Eltern zu sehen und jetzt nicht mehr zu seinen Kindern nach Deutschland kann, den angehenden Studenten der Informatik, der seinen Vater in Deutschland hat; verzweifelte Gespräche, Anrufe in letzter Minute, nach Deutschland, zu Botschaften. Die Deutsche Botschaft in Tel Aviv: „Wir können nicht helfen.“

Hanije kommt, um den palästinensischen Pass zu überreichen. Das verpflichtet: zur Berichterstattung, was hinter den Mauern geschieht. Nicht weniger, vielleicht mehr.

Weitere Informationen
auf der Webseite von „Free Gaza

Lesen Sie auch in der vorangegangen Ausgabe der NRhZ den ersten Teil Edith Lutz' Berichts aus Gaza.



Online-Flyer Nr. 164  vom 17.09.2008

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