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Inland
EU-Abstimmung in Irland unter Druck aus Berlin und Brüssel
Ende der Neutralität befürchtet
Von Hans Georg

Vor weiterer Einmischung Berlins und Brüssels in die irische Referendumskampagne zum "Vertrag von Lissabon“ hat das das Auswärtige Amt in Berlin gewarnt. Eine "Pilgerfahrt" nach Dublin mit dem Ziel, die Bevölkerung von einem "No" bei der Abstimmung am Donnerstag abzuhalten, sei "kontraproduktiv", urteilte der Staatsminister im Auswärtigen Amt Günther Gloser.
Günther Gloser
Macht sich Sorgen wegen EU-Abstimmung
in Irland – Günther Gloser
Quelle: www.auswaertiges-amt.de
Die Bundesregierung reagierte damit auf deutliche Stimmengewinne der Vertragsgegner, wie sie Umfragen am Wochenende festgestellt haben; sie sind Beobachtern zufolge nicht zuletzt auf Drohungen aus Berlin und Brüssel zurückzuführen, die in Irland als Erpressungsversuche verstanden werden und auf Ablehnung stoßen. Proteste ruft auch der Angriff auf die militärische Neutralität Irlands hervor, der in der Beistandsklausel und der Aufrüstungspflicht des Vertrags von Lissabon enthalten ist. Mit ihm rührt Brüssel an ein Element der irischen Politik, das seit mehr als 200 Jahren zentrale Bedeutung für das irische Unabhängigkeitsstreben besitzt, erklärt Roger Cole, der Vorsitzende der irischen Peace and Neutrality Alliance. Deutsche und weitere EU-Politiker fahren trotz aller Warnungen mit ihren Drohungen gegen Dublin fort. Ein Ausschluss Irlands aus der EU wird ebenso diskutiert wie die Gründung eines neuen europäischen Zusammenschlusses ohne den Inselstaat.
 
Das "No" in Führung
 
Die Warnung des Staatsministers für Europa im Auswärtigen Amt Günther Gloser vor "Pilgerreisen" nach Irland zur Einmischung in die Referendumskampagne [1] erfolgte am Wochenende, nachdem die Ergebnisse neuer Umfragen bekannt geworden waren. Ihnen zufolge wollen erstmals mehr Iren gegen den "Vertrag von Lissabon" stimmen (35 Prozent) als für das Dokument (30 Prozent). Zwar wurden unmittelbar nach Veröffentlichung der Zahlen weitere Umfragewerte publiziert, die das "Yes" leicht in Führung sehen und den "No"-Befürwortern den Wind aus den Segeln nehmen sollen; sie beruhen aber auf älteren Erhebungen und sind für die aktuelle Stimmung nicht mehr repräsentativ.
 
Kontraproduktiv
 
Beobachter führen die Zunahme der "No"-Voten auch auf Drohungen aus Berlin und Brüssel zurück, die als Erpressungsversuche verstanden und strikt abgelehnt werden. So hatte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso kürzlich gedroht, Irland müsse im Falle eines "No" "einen Preis zahlen". Seine Äußerung löste heftige Proteste aus.[2] "Gehorsam" sei noch "nie die stärkste Seite unserer Nation gewesen", urteilt ein irischer Vertragsgegner.[3] Ähnliche Einmischungsversuche hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der deutsche Präsident des Europaparlaments, Hans-Gert Pöttering, unternommen.[4] Auch Elmar Brok (CDU), einflussreicher Europaabgeordneter und ehedem an der Ausarbeitung der gescheiterten EU-Verfassung sowie des Vertrags von Lissabon beteiligt, lässt sich regelmäßig mit Drohungen gegenüber Irland in den Medien zitieren. Dies sei "kontraproduktiv", hieß es jetzt im Auswärtigen Amt, das einen weiteren Fauxpas mit möglicherweise entscheidender Wirkung für das Referendum befürchtet.
 
Eng verflochten
 
Widerstände gegen auswärtige Einmischung sind in Irland historisch verankert und bis heute verbunden mit dem Prinzip militärischer Neutralität. Dies geht letztlich auf die Zeit irischer Unabhängigkeitskämpfe gegen London am Ende des 18. Jahrhunderts zurück, erklärt Roger Cole, der Vorsitzende der irischen Peace and Neutrality Alliance (PANA), im Gespräch mit der Redaktion von german-foreign-policy.com. Damals wurde die Forderung laut, das irische Parlament müsse in einem drohenden britisch-spanischen Krieg neutral bleiben.
Roger Cole
Roger Cole von der irischen Friedens-
und Neutralitäts-Allianz
Quelle: www.irishdemocrat.co.uk

"Seit dieser Zeit sind die Werte  irischer Demokratie, irischer Unabhängigkeit und irischer Neutralität eng verflochten", sagt Cole. Als Dublin mit London 1920 über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich verhandelte, war das Recht, im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen neutral zu bleiben, eines der wichtigsten Themen - Irland konnte es sich letzlich sichern.[5] Bis heute ist es ein bedeutender Gegenstand der politischen Debatte in Dublin.

Unter Druck ist die irische Neutralität seit Beginn der 1970er Jahre. Seit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1973 "wurde sie kontinuierlich angegriffen", urteilt PANA-Vorsitzender Roger Cole gegenüber german-foreign-policy.com. Das Ende der Neutralitäts-Politik sieht Cole in der Entscheidung Dublins, den Vereinigten Staaten den irischen Flughafen Shannon für Truppentransporte in den Irak zu öffnen - eine Maßnahme, die von einer deutlichen Mehrheit in der Bevölkerung abgelehnt wird.[6] Seitdem stellt Irland seine Infrastruktur für einen völkerrechtswidrigen Krieg zur Verfügung und ist damit nicht mehr neutral. Cole zufolge ist die "Beistandsverpflichtung" des Vertrags von Lissabon "nur ein weiterer Sargnagel" für die Neutralität. In zunehmendem Maße ziehen die kerneuropäischen Mächte irische Soldaten für ihre Kriege in aller Welt heran, zuletzt für die französisch inspirierte EU-Intervention im Tschad.[7] Irland gerät damit erneut in den Sog fremder Interessen, die es mit seiner Armee bedienen muss - ein Motiv, das einst zum Unabhängigkeitskampf gegen London beitrug.

Die ersten Opfer
 
Um dem irischen Widerstand nicht zusätzlich Nahrung zu geben, wird in Brüssel schon seit geraumer Zeit jede Maßnahme verschoben, die irischen Interessen zuwiderläuft. "Erst nach dem irischen Referendum!", heißt es inoffiziell auf Anfragen nach dem Stand zahlreicher EU-Projekte. Die Zurückhaltung wird bis heute konterkariert durch Provokationen kerneuropäischer Politiker. So kündigte etwa der französische Außenminister Bernard Kouchner an, im Falle einer Ablehnung beim Referendum seien "die ersten Opfer die Iren".[8] Daniel Cohn-Bendit, Europaabgeordneter der französischen "Grünen" und enger Weggefährte des früheren deutschen Außenministers Josef Fischer, verlangt Konsequenzen: "Wenn man nein sagt, verlässt man Europa."[9]
 
Kleineuropa
 
Schwerwiegende Folgen sagt der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok voraus. Wie Brok urteilt, wäre ein "No" der Iren zum Vertrag von Lissabon "das Ende des vereinten Europa". Danach werde es möglicherweise keine Weiterführung des bisherigen EU-Projektes geben, sondern stattdessen "die Neugründung eines Kleineuropa um Deutschland und Frankreich herum".[10] Allerdings habe Deutschland daran "als Land der geografischen Mitte mit Wirtschaftsinteressen in allen 27 EU-Staaten keinerlei Interesse". Hintergrund der Überlegung sind Befürchtungen, nach einem "No" in Irland werde der Vertrag von Lissabon womöglich auch in London scheitern und die enge außen- und militärpolitische Kooperation der EU auf dem bisher eingeschlagenen Wege endgültig verhindern. Da diese aber für den Aufstieg Europas zur Weltmacht für nötig gehalten wird, werden alte Pläne für ein Kerneuropa unter straffer deutscher Führung wieder diskutiert.[11] (PK)

 
Lesen Sie dazu das gfp-Interview mit Roger Cole.

[1] Gloser warnt vor "Pilgerreisen" nach Irland; Handelsblatt 08.06.2008
[2] Vote Yes or we'll all pay price, EU chief warns; Independent (Ireland) 27.05.2008
[3] Die Angst, immer weniger zu sagen zu haben in der EU; Tages-Anzeiger 08.06.2008
[4] s. dazu Das Ende der Neutralität
[5] s. dazu Irish Neutrality
[6] Independent National Survey shows Irish people oppose the use of Shannon airport in the Iraq War; www.pana.ie/idn/240407.html
[7] s. dazu Das Ende der Neutralität
[8] French minister warns of 'No' treaty vote; www.rte.ie 09.06.2008
[9] "On est dans des sociétés à logique égoïste"; Le Monde 07.06.2008
[10] Widerstand in Irland alarmiert EU; Financial Times Deutschland 09.06.2008
[11] s. dazu Durch die Hintertür, Solide und sachlich und Eine Frage von Krieg und Frieden in Europa

Mehr: www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57265



Online-Flyer Nr. 150  vom 11.06.2008



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