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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Inland
Mehdorn und Bahn AG weiter gegen Erinnerung an ermordete Kinder
Gedenkaktionen auf deutschen Bahnhöfen
Von Hans Georg

Vergangenen Donnerstag wurde in Berlin der "Reichsbahn"-Deportationen und der Verabredung zum Massenmord im Haus der Wannsee-Konferenz gedacht. In der Straße "Am Großen Wannsee" trafen am 20. Januar 1942 Beauftragte der deutschen Reichsregierung zusammen, um "die Endlösung der Judenfrage" zu beraten. In die Beschlussrunde, die sich auf ein Ausrottungsprogramm internationalen Ausmaßes einigte, hatte das Auswärtige Amt (AA) einen Unterstaatssekretär delegiert. Die unmittelbare Beteiligung des AA an den antisemitischen Massenmorden wird in Berlin noch immer in Frage gestellt. Vor der Eröffnung einer neuen Dauerausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz legten französische Delegierte, darunter Beate Klarsfeld (Paris), Kränze am Gleis 17 des Berliner Bahnhofs Grunewald nieder. Von dort wurden deutsche Juden mit der "Reichsbahn" nach Auschwitz deportiert. Unter Beteiligung von Frau Klarsfeld erinneren an den folgenden Tagen Demonstranten in mehreren deutschen Städten an die "Reichsbahn"-Deportationen und forderten das Recht auf Gedenken in den früheren Durchgangsstationen ein. Die Konzernspitze des "Reichsbahn"-Nachfolgers (Deutsche Bahn AG) weigert sich immer noch, das Reisepublikum mit Fotos und Dokumenten über den letzten Weg von 11.000 Kindern zu informieren, die auf dem deutschen Schienennetz in die Vernichtungslager verschleppt wurden.

Initiative Elftausend Kinder auf dem Frankfurter Hbf vor einem Jahr
Initiative Elftausend Kinder auf dem Frankfurter Hbf vor einem Jahr
Foto: Dietmar Treber


Die "Initiative Elftausendkinder" hatte, wie die NRhZ im Flyer 25 berichtete, der Konzernspitze um Hartmut Mehrdorn angekündigt, Gedenkverbote nicht zu akzeptieren. Man werde "die Erinnerung an die Ermordeten" am 27. Januar "verteidigen", heißt es in einem aktuellen Schreiben über eine im Stuttgarter Hauptbahnhof geplante Demonstration. german-foreign-policy.com dokumentiert den Wortlaut des Briefes.
Nach Konferenzschluss in der Villa "Am Großen Wannsee", die das Auswärtige Amt mit Unterstaatssekretär Luther, das Reichssicherheitshauptamt mit SS-Obersturmbannführer Eichmann beschickt hatte, begann in ganz Europa die letzte Stufe der deutschen Ethno-Politik: industrialisierte Ausrottung mittels Massendeportationen und "Vernichtung durch Arbeit". Hierfür stellte die "Deutsche Reichsbahn" anfangs Personenzüge, später Viehwaggons bereit - in Berlin am Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald. Für Erwachsene berechnete die "Deutsche Reichsbahn" vier Pfennig pro Kilometer, für Kinder die Hälfte. Die Deportationskosten hatte die jüdische Gemeinde zu zahlen. Insgesamt rund 58.000 Deutsche, die als "rassisch minderwertig" galten, wurden aus Berlin in die Vernichtungslager deportiert. Dabei arbeiteten "Polizei und Reichsbahner (...) Hand in Hand mit der SS". [1]

Mit der Bahn nach Auschwitz: Georgette Zuckermann
Mit der Bahn nach Auschwitz: Georgette Zuckermann
Foto: Dietmar Treber



Rote Laterne auf die Gleise

Nach der Kranzniederlegung im Berliner Bahnhof Grunewald begann eine bundesweite Demonstrations- und Veranstaltungsserie, die in Einrichtungen der Bahn AG an das Schicksal der Deportierten erinnert. In Wuppertal (Nordrhein-Westfalen) ist eine Mahnwache am Hauptbahnhof geplant, die am 27. Januar um 18.00 Uhr beginnt. Um 19 Uhr findet im Rathaus der Stadt ein besonderes Gedenken statt; es gilt drei belgischen Männern, die einen deutschen Deportationszug mit 1.618 Insassen stoppten und 225 Gefangenen zur Flucht verhelfen konnten - mit einfachsten Mitteln. Um die Lokomotive zum Anhalten zu zwingen, stellten sie eine rote Laterne auf die Gleise.

"Wir hatten ein irres Glück", berichtet der letzte Überlebende des Befreiungskommandos über den erzwungenen Halt. [2] "Ich war überrascht von der ungeheuren Stille in diesem Moment. Man hörte keinen Laut, kein Vogelzwitschern. Nichts außer dem Zischen der Lokomotive. Ich ging zum Zug und stand direkt vor einem Waggon. Ich nahm meine Werkzeuge, öffnete die Tür." Unter den Befreiten, die fliehen konnten, war Simon Gronowski, ein damals elfjähriger Junge. Der heute 74jährige wird am 27. Januar in Wuppertal über die Aktion der belgischen Befreier berichten ("Das Kind aus dem 20. Deportationszug nach Auschwitz").

Erinnern an Claude Grungras bei der Bahn AG verboten
Erinnern an Claude Grungras bei der Bahn AG verboten
Foto: Dietmar Treber



Rote Laterne auf die Gleise

Für etwa 11.000 Kinder, die in Frankreich verhaftet und auf dem Schienenweg in die deutschen Lager geschickt worden waren, fanden sich an der Gleisstrecke keine Helfer. Oft hielten die Züge mehrere Stunden. Aber Protest oder gar Befreiungsaktionen auf den Durchgangsbahnhöfen (Saarbrücken, Mannheim, Darmstadt, Frankfurt am Main, Fulda, Weimar, Leipzig, Dresden) sind nicht bekannt. Etwa 600 der Kinder waren in Deutschland aufgewachsen, mit ihren Eltern nach Frankreich geflohen und sahen ihre Heimatstädte nun aus den Fensterverschlägen der "Reichsbahn"-Waggons wieder. Ungefähr 100 Deportierte kamen aus Österreich, ohne zurückzukehren. [3]

Trotzdem Gedenkrede - Pfarrer Hans Christoph Stoodt
Trotzdem Gedenkrede - Pfarrer Hans Christoph Stoodt
Foto: Dietmar Treber



Rote Laterne auf die Gleise

Deportierte jüdische Kinder dem Vergessen entreißen

An diese jüdischen Kinder wird am 27. Januar Demonstranten im Hauptbahnhof Stuttgart mit Fotoplakaten und Dokumenten erinnert - gegen den Willen der Konzernspitze um den Bahn-Manager Hartmut Mehdorn ("Rambo"). [4] Mehdorn hat eine ihm vorgeschlagene Ausstellung über die Deportationsereignisse in den deutschen Publikumsbahnhöfen abgelehnt und selbst Vermittlungsgespräche mit einer hochkarätigen Delegation zurückgewiesen. [5] Über die Weigerung setzt sich jetzt ein Personenbündnis hinweg und ruft zu der Stuttgarter Gedenkveranstaltung auf. Beteiligt sind u.a. Roswitha Ehlinger (Verein Waldheim Gaisburg e.V.), Gebhard Klehr (Stolpersteine Stuttgart Mitte) und Rudi Maier (DemoZ Ludwigsburg e.V.). Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di, Bezirk Stuttgart) und Vertreter der "Initiative Elftausendkinder" als Mitveranstalter [6] fordern in einem Flyer, die "Deportierten dem Vergessen zu entreißen und ihre Namen und Gesichter am Ort des Geschehens lebendig werden zu lassen" - am 27. Januar um 17.30 Uhr im Stuttgarter Hauptbahnhof.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos"


Auf der Demonstration wird auch Beate Klarsfeld erwartet, die Repräsentantin der französichen Organisation "Fils et Filles des Déportés Juifs de France" (FFDJF/Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs). FFDJF hatte in den vergangenen Jahren eine Wanderausstellung durch die französischen Bahnhöfe organisiert und dadurch das Schicksal der 11.000 deportierten Kinder in Deutschland bekannter gemacht. Frau Klarsfelds Bemühungen um eine Übernahme der Fotos und Dokumente durch den Berliner Bahn-Konzern scheiterten an der intransigenten Haltung der Führungsgruppe um Mehdorn. Um die Botschaft der Ausstellung dennoch nach Deutschland gelangen zu lassen, hat ver.di Stuttgart (Bärbel Illi, Gerhard Manthey) die Präsentation einer reduzierten Fassung ermöglicht. Zur Eröffnung im Lichthof des Stuttgarter Gewerkschaftshauses lädt ver.di am 27. Januar um 14 Uhr ein.


Lesen Sie den Brief an die DB-Konzernspitze im Wortlaut.
Weitere Informationen auf der EXTRA-Seite: Elftausend Kinder
[1] Der Tagesspiegel 08.11.1999
[2] Pressemitteilung: Nichts und niemand wird vergessen; Wuppertal 17.01.2006
[3] s. dazu unsere EXTRA-Seite
[4] s. dazu Überparteiliche Koalition
[5] Bei den von der Bahn AG abgewiesenen Delegationsmitgliedern handelt es sich u.a. um Frau Edith Erbrich (Überlebende der "Reichsbahn"-Deportationen), Herrn Dr. h.c. Arno Lustiger (Gastprofessor des Fritz-Bauer-Instituts), Herrn Serge Klarsfeld (Rechtsanwalt und Historiker, Paris) sowie Herrn Stephan J. Kramer (Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland)
[6] s. dazu Offener Brief der Initiative Elftausendkinder

Info-Anfragen können Sie an folgende Adresse richten: elftausendkinder@web.de. Den Offenen Brief an den Bahn-Vorstand finden Sie unter http://www.german-foreign-policy.com; dort finden Sie auch eine Kontaktadresse, bei der Sie den Brief unterzeichnen können.http://www.german-foreign-policy.com



Online-Flyer Nr. 28  vom 25.01.2006



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