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Literatur
Rezension Wolfgang Bittners „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“
„Geschichte wiederholt sich ständig“
Von Uli Klinger

1978 erschien dieser Roman zum ersten Mal, lange Zeit war er vergriffen, nun wagt der kleine aber engagierte Horlemann Verlag eine leicht überarbeitete Neuausgabe. Man und frau fragt sich natürlich unwillkürlich: Warum? Gibt es nicht genügend Neuerscheinungen, unbekannte Autoren, unentdeckte Lesestoffe? Doch, wenn sich der geneigte Leser auf das Buch einlässt, wird schnell klar, warum. Denn vor ihm liegt ein Buch, das die Situation der alten Bundesrepublik beschreibt, von etwa 1960 bis 1974.

wolfgang bittner
„Der Aufsteiger oder Ein Versuch
zu leben“ | Horlemann Verlag
Wer das Phänomen von 1968 verstehen will, der muss diesen Roman lesen, denn er stellt, ohne dass dies die Haupthandlung wäre, die Situation deutlich dar, in der in der alten BRD diese Revolte, diese Hoffnung auf Veränderung, dieser Anspruch auf sofortige Verwirklichung der politischen, gesamtgesellschaftlichen und privaten Forderungen entstehen konnte, ja musste – und auch woran ’68 „scheiterte“: Denn schon zu Zeiten von Willy Brandt entstand der Radikalenerlass, ganz zu schweigen von dem, was dann unter Helmut Schmidt oder Namensvetter Kohl folgte.




Erich Wegner auf dem Weg


Doch worum geht es eigentlich in diesem Roman? Erich Wegener, Flüchtlingskind aus Oberschlesien, arbeitet nach dem Abschluss der Mittelschule als Hilfsarbeiter im Tiefbau. Er ist 19. Die Arbeit ist hart und dreckig, der Lohn miserabel. Er will da raus. Raus aus solchen Arbeitsverhältnissen, raus aus dem Milieu. Der einzige Weg geht über Qualifizierung. Bildung ist das Zauberwort, höhere Schulabschlüsse. Also macht sich Erich Wegener auf den Weg, seinen Weg, der natürlich exemplarisch ist, denn zu dieser Zeit gibt es viele Wegeners. Aber jeder zieht los als Einzelkämpfer, gemeinsamen Erfahrungsaustausch gibt es nicht, noch funktioniert die Kontrolle von oben, die totale Auslese. Die Klassenunterschiede sind in Stein gemeißelt, aber der Traum vom Aufstieg ist erlaubt. Gelingt er, wird er gerne zur Legitimation unserer Demokratie benutzt.

Der erste Schritt zum Aufstieg ist Wegners Bewerbung als Angestellter beim Landkreis. In der Sozialverwaltung wird er als Hilfskraft angestellt: nichts großes, aber er ist raus aus dem Dreck und Schlamm. Schon bald erkennt er seine Situation, die natürlich eine Sackgasse ist, und er beschließt aus einer Laune heraus, das Abitur nachzuholen. Ein Fernlerninstitut ist der Ausweg. Er schreibt sich ein, beginnt mit der Büffelei. Das Ziel ist klar: „Mit einem Abitur bekam man jeden Posten. Oder man konnte studieren und sich ein paar Jahre einen schönen Lenz machen“. Der Weg ist hart, aber zum ersten Mal liest er Brecht, Böll, Dürrenmatt, wenn er denn Zeit dazu hat. Denn die Arbeit geht weiter, er wohnt immer noch zu Hause, zum Lernen bleiben nur die Abende und das Wochenende.

Im Alter von 21 Jahren, fällt Erich Wegner das Lernen schwerer, in seiner Umgebung gibt es keine Anreize, geschweige denn Hilfe. Aber er lernt. Lernt zu erkennen, dass die Bauernkriege nicht das Werk von Mordbrennern, sondern ein Aufstand der Geknechteten und Entrechteten war, dass Marx und Engels keine „üblen Kommunisten“ sondern Sozialphilosophen gewesen waren, die für eine klassenlose Gesellschaft eintraten. Er politisiert sich selbst, ahnt Zusammenhänge, wagt aber nicht diese konsequent zu Ende zu denken. Er muss arbeiten und büffeln, mehr ist nicht drin. Denn immer noch ist er am Anfang, die Gefahr des persönlichen Scheiterns riesengroß.

Neue Ufer und Gegensätze

Doch Wegner schafft das Abitur, hat „den Marschallstab im Tornister“ und bricht auf zu neuen Ufern. Göttingen ist angesagt, Universität, Jura als Hauptfach, Philosophie, Geschichte und Soziologie nebenbei. Er trifft auf Lina, die erste Frau aus der oberen Mittelschicht, mit der er sich einlässt. Welten liegen zwischen den Herkunftmilieus. Trotzdem ist es eine schöne Zeit, nur die Verhältnisse sind anders, die große Liebe reicht nicht aus.

Schicht- und Klassengegensätze sind jetzt auch für ihn deutlich erkennbar. Und er sieht endgültig die Situation im Land, die Verdrängung und die Lügen: Der problemlose Übergang vieler ehemaliger „NS-Führungskräfte“ in entsprechende Stellen und Ämter in der BRD. Kein Wort in der Schule über KZs und Emigranten, aber viel über herrliche Zeiten im U-Bootkrieg oder sonst wo. Und schuld waren immer die Linken, die Kommunisten und die „Vaterlandsverräter“ Brandt und Wehner.

Nächste Station ist München. Ostern 1968. Er studiert weiterhin Jura. Zufällig gerät er in eine Studentendemonstration, wird bei dem überharten Polizeieinsatz verletzt und flüchtet in die Wohnung einer ihm unbekannten jungen Studentin namens Marianne. Sie studiert an der Pädagogischen Hochschule. Neben dieser Bekanntschaft und der Erkenntnis über den Unterschied zwischen Theorie und Praxis der im Grundgesetz verbrieften Rechte als Bürger unserer Demokratie passiert zunächst nichts. Dann hört er die Nachrichten im Radio. „Am Abend hätten vor der Oper (in Berlin) mehrere tausend Studenten und Jugendliche gegen den Schahbesuch demonstriert… Dabei seien mehrere Menschen zum Teil schwer verletzt und ein Student namens Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen worden. Erschossen, dachte er, die schießen ja tatsächlich.“


Demonstrant und Staatsgewalt '68 nach Attentat auf Rudi Dutschke
Fotos: Günter Zint – panfoto

Aus der Bekanntschaft wird bald eine Liebesbeziehung. Marianne ist absolut unpolitisch, der Vater Landgerichtsdirektor in Stuttgart. Anlässlich des ersten Besuches bei ihren Eltern wird er in den Familienkreis aufgenommen, und – von Bittner wunderbar realistisch geschildert –praktisch zur Hochzeit „genötigt“. Und dann könnte eigentlich alles seinen geplanten Weg gehen. Also Dissertation in Göttingen mit finanzieller Unterstützung seiner Schwiegereltern, Kind, Häuschen, Pension. Es könnte. Wenn da nicht die Widersprüche des realen politischen Alltags wären, die Erfahrungen beim Durchlaufen des Aufstiegs, die eigenen Vorstellungen von einem humanen und selbstbestimmten Leben in einer sozialen Gesellschaft.

Ein Held und eine Sicht „von unten“

Das Ende will ich nicht verraten – nur soviel: Es ist schlüssig, logisch, lesenswert, wie der gesamte Roman. Er schildert nichts weiteres als den Aufstieg eines jungen Erwachsenen aus dem Arbeitermilieu in das sogenannte gehobene Bürgertum. Die Widersprüche, die Mühen und Kompromisse, die nötig sind, wenn man nicht von Geburt aus dazugehört. Und wie man manchmal in den eigenen Kampf ums Überleben eingebunden ist und keine Zeit hat, sich politisch einzumischen, selbst wenn man die Situation erkennt; doch dabei trotzdem sein Rückgrat behält und zu seiner Überzeugung steht: manchmal zu zaghaft, manchmal zu spät, manchmal für alle anderen zu unvermittelt. Ein Roman über einen „Helden“ von unten, aus der Sicht von unten und deshalb wichtig für alle – und sogar mit nicht allzu viel Fantasie lässt sich auch der Roman auf heutige Verhältnisse übertragen.

wolfgang bittner
Wolfgang Bittner                             
Quelle: wolfgangbittner.de

Wolfgang Bittner ist einer der bedeutendsten Autoren Deutschlands, erhielt mehrere Literaturpreise und hat über 50 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht. Leider waren Bittners Werke durch kommerzielle „Bereinigungen“ in der Verlagsszene in den letzten Jahren weniger in den Auslagen der Buchläden sichtbar, doch liegen inzwischen liegen wieder erste Neuauflagen vor. Es lohnt sich, sie zu lesen, insbesondere auch die Jugendromane zu verschenken. Gehen Sie in die Buchhandlung Ihrer
Wahl, und fragen Sie nach den Büchern dieses Autors.

Der vorliegende Roman ist meiner Meinung nach Wolfgang Bittners persönlichster; er ist fast als Biographie zu lesen. Lesen Sie ihn und entdecken Sie einen Solitär unter den heutigen Autoren! (CH)

Weniger handlich aber ohne Abbruch in der Qualität können unsere LeserInnen den Roman in den kommenden Ausgaben der NRhZ lesen.

Wolfgang Bittner
„Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“
Horlemann Verlag,
geb., 200 Seiten, 16,90 Euro



Bibliographie der im Buchhandel erhältlichen Werke von Wolfgang Bittner

Romane / Erzählungen
„Der Aufsteiger oder ein Versuch zu leben“, Horlemann 2008
„Das andere Leben“, Horlemann 2007
„Ich mische mich ein“, Horlemann 2006
„Beruf: Schriftsteller“, Allitera 2006

Jugendliteratur
„Flucht nach Kanada“, Laetitia 2007
„Die Lachsfischer vom Yukon“, Laetitia 2006
„Narrengold“, Laetitia 2005
„Die Fährte des grauen Bären“, Laetitia 2004

Kinderliteratur / Bilderbücher
„Felix und Mario wollen nach Italien, Altberliner Verlag 2005
„Die Grizzli-Gruzzli-Bären“, Findling 2003

Ulrich Klinger sucht für Sie Literatur aus, gerne auch vor Ort.


Online-Flyer Nr. 139  vom 26.03.2008

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