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Lokales
„'68 bis 2008 und weiter"
Ulrike Meinhof und die APO
Von Hans-Dieter Hey

"Ich habe in meinem ganzen Leben an noch keinem Objekt geforscht, bei dem ich auf einen so großen Berg von fast ausschließlichem Schrott an Material gestoßen bin", beginnt die Journalistin Jutta Ditfurth ihre Lesung über das Leben von Ulrike Meinhof. Durch sorgfältige Recherche hat sie einiges von den in die Welt gesetzten Mythen zurecht gerückt.
Immerhin sechs Jahre hat Jutta Ditfurth das Leben von Ulrike Meinhof erforscht, erbsenzählerisch genau, teilweise auf heftigen Widerstand stoßend. Trotzdem wurde sie so fündig, das dabei ein 478seitiges Buch herausgekommen ist. Ein wichtiges Buch mit endlich aufgeräumter Zeitgeschichte, über das wir bereits eine Rezension in der NRhZ 119 veröffentlicht haben.

Auf die Lesung von Jutta Ditfurth zur NRhZ-Veranstaltungsreihe „'68 bis 2008 und weiter" am vergangenen Freitag in der Humanistischen Fakultät Köln waren deshalb viele gespannt. Besonders Jüngere waren an einer Antwort auf die Frage interessiert, wie denn ein Mensch überhaupt zur Anwendung von Gewalt kommen kann. Drum hat die Autorin Ulrike Meinhofs Leben, Ihre Entwicklung in den gesellschaftlichen Kontext gestellt.

Immer kulminiert etwas
Die Außerparlamentarische Opposition APO und die spätere Gewalt sei einfach ausgebrochen, ist bis heute in den meisten Medien zu lesen. Doch – so Jutta Ditfurth: „Diese Menschen haben einfach kein Geschichtsverständnis. Es gibt nichts Plötzliches. Es gibt manchmal einen Funken, der fliegt, außergewöhnliche Situationen, eine Kugel im Kopf wie bei der Ermordung von Benno Ohnesorg als Auslöser. Aber immer kulminiert etwas, was wie eine Wellenbewegung angelaufen ist." Und auch für die sensible, intelligente und wache Ulrike Meinhof war seit ihrer Kindheit einiges an Widerwärtigkeiten des Lebens aufgelaufen. Als für sie 1968 das Wasserglas voll war, hatte sie bereits zwölf Jahre politische Niederlagen hinter sich.


Jutta Ditfurth
Foto: H.-D. Hey, arbeiterfotografie

Um zu begreifen, was in ihr vorgegangen sein muss, versetzt man sich am besten in die Lage eines 1934 geborenen Mädchens, das 1940 ihren Vater und 1949 ihre Mutter verlor und von ihrer Pflegemutter Renate Riemeck, einer Historikerin, aufgezogen wurde. Schon früh machten ihr die Ungerechtigkeiten der Welt zu schaffen. Sie wuchs auf in einer Zeit, in der Schläge an den Schulen noch erlaubt waren und Kopfnoten für unangepasstes Verhalten vergeben wurden, die Versetzungen gefährden konnten. Heute werden wieder Kopfnoten in den Schulen vergeben. Unangepasstes Verhalten war damals so etwas wie 'Hosen tragen'. Wenn Frauen auf der Straße rauchten, galt dies als 'Nuttenverhalten'. Die Angst in den Schulen war für viele eine tägliche Erfahrung.

Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren
Auch die häusliche Repression war gegenwärtig. Von ihrer Pflegemutter Renate Riemeck, die sie wohl unterdrückte, wurde ihr verboten, mit den Menschen Kontakt aufzunehmen, die ihr am nächsten standen. Nachbarsmädchen durften mit ihr nicht nach Hause gehen. In einem Poesie-Album findet man den Satz einer Lehrerin: "Wenn du recht schwer betrübt bist, dass du meinst, kein Mensch auf der Welt könne dich trösten, so tue jemand etwas Gutes, und gleich wird's besser." Aufgrund der Enge des Zuhause und der Schule rebellierte sie und tobte sich aus. Sie spielte Schlagzeug, ging auf Feten, tanzte am wildesten und umgab sich aus Trotz mit den Jungs, die den schlechtesten Ruf hatten. Das muss sich damals wie eine Befreiung angefühlt haben.

Wieder an der Macht: die ewig Gestrigen
1955 erhielt Ulrike Meinhof ein Stipendium und orientierte sich politisch eher an linken SPD-Leuten. Leider erfuhr sie in Marburg eine völlig konservative Studiensituation mit rechtsextremen schlagenden Verbindungen. Andersartige politische Meinungen wurden skandalisiert oder gar verfolgt. Als ein ehemaliger Volkskammer-Präsident einen Vortrag zum Kulturdialog Ost-West halten wollte, wurde die Veranstaltung mit Steinen torpediert und der arme Mann am selben Tag über die Ost-West-Grenze zurück gejagt, was sie zutiefst empörte.

Besonders erschreckend für sie waren die hunderttausende zerbrochenen, zerstörten Kinder in den Kinderheimen nach dem Krieg, für die die alte schwarze Pädagogik, Misshandlungen und Ausbeutung das tägliche Leben bedeuteten und die sie selbst deutlich innerlich belasteten. Enttäuschend für sie war, dass die großen Demonstrationen zigtausender Angestellter, Arbeiter, Studenten und Schüler gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze, gegen die Beteiligung an Atomwaffen oder gegen das KPD-Verbot ohne jeglichen Einfluss auf politische Entscheidungsträger waren. Über die Spiegel-Affäre 1962 und den Gossenjournalismus der Bild-Zeitung war sie genauso empört wie darüber, dass Kommunisten nach der Verfolgung durch die Nazis nun schon wieder verfolgt wurden.


Ulrike Meinhof als junge Journalistin
Quelle: wikipedia

In diesem Klima staatlicher Gewalt, in dem wieder so viele Alt-Nazis in Amt und Würden und als reaktionäre Kräfte politikbestimmend waren und erneut Spuren in der Geschichte hinterließen, erfuhr sie das Nachkriegsleben der ewig Gestrigen. Es war eine Zeit, in der Männer die Arbeitsverträge der Frauen einseitig kündigen konnten und Frauen zur Arbeitsaufnahme oder für einen Führerschein die Zustimmung ihres Mannes benötigten.

Hoffnung auf Wandel

Dies war für viele, auch für Ulrike Meinhof 1957, der Auslöser, politisch aktiv zu werden. Noch wurde sie damals von Hoffnung auf positive Veränderung getragen und schrieb: "Wir glauben, dass der Mensch in jeder Situation, unter jedem System, in jedem Staat die Aufgabe hat, Mensch zu sein und seinen Mitmenschen zur Verwirklichung des Menschseins zu helfen". Sie gründete in Münster den „Anti-Atom-Ausschuss". Angesichtes des Widerstandes in der Bevölkerung sah sich die SPD genötigt, aus taktischen Gründen die Kampagne „Kampf dem Atomtod" zu starten. Doch als sich herausstellte, dass sich dies für die SPD nicht in Wählerstimmen umwandeln ließ, wurde die Kampagne wieder gekippt. Für Ulrike Meinhof eine tiefe Enttäuschung.

Inzwischen stiegen in ihr Wut und Zorn über die politischen Verhältnisse auf, vor allem, weil die SPD den von ihr gegründeten Ausschuss unter ihr parteipolitisches Kalkül stellen wollte. Sie kollidierte mit der SPD wegen der von ihr durchgesetzten Beschlüsse in Berlin und Frankfurt, in der die Bundesregierung aufgefordert wurde, mit der DDR Friedensgespräche zu führen und die Oder-Neisse-Linie anzuerkennen. Das war, so Jutta Ditfurth „...damals so etwas politische Pornografie. Dies hat mit dafür gesorgt, dass der SDS aus der SPD rausgeflogen ist".

Polizeiführer mit Vergangenheit

Anfang 1968 fuhr sie mit Rudi Dutschke nach Berlin und schloss sich vor allem der linken politischen Frauenbewegung an. Besonders wichtig war der große „Vietnamkongress". Da trafen sich 5.000 Gäste aus der ganzen Welt. Gerade in Berlin war die staatliche Repression gegen die Studenten besonders groß. Für Jutta Ditfurth stellte sich vor allem die Frage, wer eigentlich die Polizeikräfte waren, die die Einsätze damals leiteten. Einer der führenden Einsatzleute über 10.000 Polizisten, der auch Teil der Befehlskette bei der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und mitverantwortlich dafür, dass die geladenen Jubelperser beim Besuch des persischen Diktators Schah Reza Pahlavi vor dem Schöneberger Rathaus die demonstrierenden Studenten nieder prügeln durften, war während des Nazi-Regimes am Einsatz gegen die Partisanen in der Ukraine und dort an Massakern an der Zivilbevölkerung und später auch in Italien beteiligt. Auch andere Polizeioffiziere hatten eine ähnlicher Vergangenheit wie dieser Mann. Sie wurden nun auf die streikenden Studenten, Lehrlinge, die Jungarbeiter, die Schüler, die Linken oder die APO losgelassen.

Das Attentat auf Dutschke
Einige Wochen nach dem Vietnam-Kongress, am 11. April 1968, wurde auf den engsten politischen Freund Ulrike Meinhofs, Rudi Dutschke, das Attentat verübt. Zehntausende demonstrieren daraufhin, und die Gewalt eskalierte. Nach dem Attentat schrieb sie: "Wirft man einen Stein, so ist das eine strafbare Handlung. Werden tausend Steine geworfen, ist das eine politische Aktion. Zündet man ein Auto an, ist das eine strafbare Handlung, werden hunderte Autos angezündet, ist das eine politische Aktion". Was zusätzlich wie eine Axt in die Bewegung schlug, war der Überfall der Sowjetunion auf die Tschechoslowakei nach dem „Prager Frühling", auf den so viele Linke gesetzt hatten. Nun glaubte sie, dass das Bündnis mit den Linken, die sich eher an der Sowjetunion orientierten, zerbrochen war – für sie eine große Enttäuschung.

Trauer und ohnmächtige Wut nach Attentat auf Rudi Dutschke
Foto: Günter Zint – panfoto

Während von den Medien berichtet wurde, dass sich Ulrike Meinhof in einem militärischen Ausbildungslager im nahen Osten befinde, versuchte sie tatsächlich in Berlin das Sorgerecht für ihre Kinder Regine und Bettina zu bekommen, das ihr der Staat zwangsweise entziehen wollte. Viele Akten zeugen von ihrem Kampf gegen diesen Skandal. Die Medien berichteten von der angeblichen Rabenmutter Ulrike Meinhof und dass die Kinder angeblich von der RAF entführt wurden. Tatsächlich wurden sie aber von Stefan Aust, dem späteren Spiegel-Chefredakteur, mit nach Sizilien genommen, um dem Sorgerechtsbeschluss zu begegnen. Das alles fraß bitter und tief in ihr.

Zerbrechen an der Wirklichkeit
Ulrike Meinhof zerbrach innerlich auch daran, als bekannte Journalistin weder bei Spiegel, Panorama, Konkret oder im Radio, noch im politischen Widerstand etwas an den reaktionären Verhältnissen im Lande ändern zu können und driftete wie andere der RAF in den Untergrund ab. Sie lernte Autos knacken und Banken überfallen, um an Geld zu kommen. Schließlich wurden ihr fünf Sprengstoffanschläge im Mai („Mai-Offensive“) und zwei auf die Polizei in Augsburg und München vorgeworfen, auch zwei Anschläge gegen Einrichtungen der USA für deren Beteiligung am Vietnam-Krieg in Kooperation mit der BRD, dazu der Anschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg, der als Rache für von der Polizei erschossene Demonstranten galt. Merkwürdigerweise wurde sofort darauf die erste Generation der RAF verhaftet. Ulrike Meinhof verschwand einige Tage an einem unbekanntem Ort, erhielt nicht einmal einen Anwalt und landete schließlich im sogenannten "Reform-Knast" in Köln-Ossendorf.


Nächtliche Dauerkontrollen als Folter
Zeicnnung nach Auskunft von Zellenangehörigen

Jutta Ditfurth: "Aus den Akten der Gerichte und Justiz habe ich dann recherchiert. Und aus den Mengen der Akten findet man dann immer mal eine 'Perle'. Dort steht, die Wände der Zelle sind weiß gestrichen, sie ist die einzelne Gefangene im ganzen Trakt, keiner nebenan, keiner drüber oder drunter. Völlige akustische Isolierung vor anderen menschlichen Geräuschen, Schlafentzug durch nächtliche Kontrollen, Kontakt- und Schreibverbot. Nur gelegentlich darf sie ihre Anwälte sehen." Obwohl dies aktenkundig ist, wird bis heute geleugnet, dass es sich dabei um eine Folter ohne Spuren handelte, die aufgrund sensorischer Deprivation (Reizentzug) stattfand. Dabei verlieren Menschen schließlich ihre Sprache und verwahrlosen. Auch Ulrike Meinhof konnte monatelang nicht sprechen.

Unvorstellbare Haftbedingungen

All das geschah, während die Großfamilie Meinhof Umgang mit Johannes Rau, Dieter Posser, Gustav Heinemann und anderen bekannten Politikern pflegte. Schließlich beschwerte sich ihre Cousine Heidi bei Hilda Heinemann – der Frau des Bundespräsidenten – über die Haftbedingungen, die diese sich eigentlich nicht vorstellen konnte. Niemand reagierte. Auch Johannes Rau wurde von Heidi gebeten, etwas an den Haftbedingungen zu verändern, bekam jedoch keine Antwort. Schließlich ging sie zu einer Veranstaltung des Verteidigungskomitees und war empört, was sie dort zusätzlich über Haftbedingungen erfahren musste, die eigentlich in einem „demokratischen Staat“ unvorstellbar sind.

Also trat Ulrike Meinhof wie andere in den Hungerstreik. Die Gefangenen wollten damit Druck ausüben, um wie andere, normale Untersuchungshäftlinge behandelt zu werden, denn das waren sie zur damaligen Zeit. Am 9. Mai 1976 wurde sie gefunden – am Fenstergitter ihrer Gefängniszelle aufgehängt. Die Obduktion lief überhastet, und ob Ulrike Meinhof Selbstmord begangen hat oder umgebracht wurde, wird wohl immer ungeklärt bleiben. Sie war wohl ein "Mensch mit einem schweren Leben, der sich das Leben dadurch schwer gemacht hat, dass er das Elend anderer Menschen sich so nahe gehen ließ", sagte am Grab der Theologe und Seelsorger Helmut Gollwitzer.


„Es hieß, sie hat sich aufgehängt."
Zeicnnung nach Auskunft von Zellenangehörigen
Quelle: Aus einem Manuskript des Freiburger
Anwalts Michael Schubert: „Machen sie sofort
die Schranktür zu"

Aus dieser Sicht betrachtet dürften die bitteren Kindheitserfahrungen, die späteren tiefen Enttäuschungen darüber, weder durch Wahl, noch publizistisch, noch politisch in einer sich als Demokratie bezeichnenden Gesellschaft etwas verändern zu können, zur Gewaltbereitschaft beigetragen haben, die sich bei ihr nur in Sabotageakten oder Anschlägen gegen Sachen äußerte. Heute, 32 Jahre nach dem Tod von Ulrike Meinhof, erlebt das Land neue Repressionen in Form von Turbo-Kapitalismus, Hartz IV, Generalüberwachung, weltweiter deutscher Kriegsbeteiligung und – neu – Übermittlung personenbezogener Daten an die USA gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger. Es scheint, als laufe das Glas wieder voll. Vielleicht begreift man das noch rechtzeitig in Berlin. (PK)

Unser Startfoto zeigt Jutta Ditfurth Quelle: Ökologische Linke

Die nächste Lesungen in Köln:

Do. 17.4.2008, 19:30 Uhr, 50733 KÖLN, Lesung zu „Ulrike Meinhof. Die Biografie", Buchladen Neusser Straße, Neusser Str. 197, Telefon (0221) 73 77 06, Fax (0221) 72 26 05, www.buchladen-nippes.de, Eintritt: 8 Euro

Mo. 26.5.2008, 20:00 Uhr, KÖLN, Theater im Bauturm, Aachenerstr. 24-26, im Rahmen des „Sommerblutfestivals"







Online-Flyer Nr. 137  vom 12.03.2008



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