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Inland
Interview mit MB Lale Akgün über Integration und Assimilation
„So kann man keine Vorurteile abbauen“
Von Christine Schmidt

Am 10. Februar hatte der türkische Ministerpräsident Erdoğan eine Veranstaltung für etwa 15.000 Landsleute in der Köln-Arena organisiert. Einerseits sprach er sich dabei für Integration aus, indem er darauf Wert legte, dass die türkischen Migranten Deutsch lernen und sich im Beruf und in der Ausbildung gut positionieren sollten – andererseits machte er aber auch die Aussage, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschheit. Das wiederum führte zu einem Aufschrei in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, erwartungsgemäß vor allem bei konservativen Politikern.
erdogan köln-arena anhänger foto: arbeiterfotografie.com
Anhänger Erdoğans vor der Köln-Arena | Foto: Arbeiterfotografie

Christine Schmidt sprach mit der in Istanbul geborenen Kölner SPD-Bundestagsabgeordneten Lale Akgün über Integration und Assimilation sowie über Sinn und Unsinn von Erdoğans Forderungen.

Frau Akgün, wie erklären Sie sich diese in Teilen heftigen Reaktionen?

lale akgün Nun, die Aussagen von Ministerpräsident Erdoğan am 10. Februar in der Köln-Arena haben der Integrationsdebatte in Deutschland einen Bärendienst erwiesen. Seine Vorstellung von Integration ist offensichtlich, dass die Menschen zwar Deutsch lernen und weiterkommen sollen, aber sie sollen wohl als Gruppe für sich bleiben. Das ist aber eigentlich nicht das, was wir uns für die Zukunft in unserem Land unter „Integration“ vorstellen können – das ist „zu kurz“ und das wird nicht reichen.

Wenn Sie sich vorstellen, wie die Zugewanderten in der demographischen Entwicklung immer mehr an Raum gewinnen, müssen wir Integration auch über das gemeinsame Leben definieren und nicht mehr über ein „jeder lebt für sich“ und „keiner tut sich weh“. So kann man keine Vorurteile abbauen, so kann man nicht zusammenwachsen, und so kann man nicht zu einer Gesellschaft werden, die gemeinsam für das Gemeinwesen Deutschland Verantwortung übernimmt.

Es wird immer sehr viel darüber diskutiert, was denn beispielsweise die türkischen Migranten für die Integration zu leisten hätten, aber was können wir als „deutsche Mehrheitsgesellschaft“ tun?


Ich glaube, die Aufgaben sind gar nicht so unterschiedlich und liegen auch gar nicht so weit voneinander entfernt. Ich glaube, dass wir uns miteinander mehr beschäftigen müssen, und zwar beide Seiten. Das heißt zum Beispiel, die Zugewanderten müssen mehr in Vereine eintreten, sie müssen präsent sein, nicht in eigenen, sondern in deutschen Fußballvereinen, bei der freiwilligen Feuerwehr, in Karnevalsvereinen, eben in allen Institutionen, die wichtig sind für die Gesellschaft. Dort müssen sie präsent sein, nicht als „der Andere“, sondern als ein ganz normales Vereinsmitglied, das dort mitmacht.

Die Mehrheitsgesellschaft muss auch Herz und Türen öffnen und sagen: „Ihr seid willkommen! Wir wollen, dass ihr dabei seid“, und so die Leute nicht als „Ausnahme“ oder als „Exoten“ ansehen, sondern als ganz normalen Bürger wie du und ich. Beide Seiten müssen sich sicher auch öffnen, wenn es um interkulturelle Ehen geht. Wie oft höre ich einen Aufschrei durch eine Familie gehen, wenn sich der Sohn oder die Tochter in einen Menschen aus einer anderen Kultur oder mit anderer Religionsangehörigkeit verliebt. Dann ist ja in den Familien oft die Hölle los, dann wird geweint, geschimpft oder gar gedroht. Und das muss aufhören! Wir müssen einfach kapieren: Wenn Kinder gemeinsam aufwachsen, gemeinsam in die Schule gehen, werden sie sich auch in einander verlieben.

ältere Migrantinnen in Bochum Foro: atmantis
Drei Vertreterinnen der ersten Einwanderergeneration in Bochum
Foto: Atmantis


Damit müssen wir nicht nur zurechtkommen, das müssen wir als eine Chance begreifen. Denn ich glaube, nirgendwo ist Integration dichter als in der eigenen Familie, wenn man einen Schweigersohn oder eine Schwiegertochter bekommt, der oder die einer anderen Kultur entstammt. Das muss man als „Normalität“ ansehen. Die Kinder dieser Kinder sind für mich die wirklichen Träger der Integration und der Interkulturalität.

Ein Aspekt der Rede Erdoğans war bekanntlich das Thema „Türkische Schulen in Deutschland“. Auch das ist nicht besonders positiv aufgenommen worden. Wieso wünscht man sich türkische Schulen in Deutschland – reicht das deutsche Schulsystem nicht für alle?

Das deutsche Schulsystem reicht für alle. Der Wunsch von Herrn Erdoğan nach türkischen Schulen in Deutschland ist kontraproduktiv und schädlich... weil er Segregation vorantreibt. Wo bitte schön, wenn nicht in der Schule, können sich Kinder kennenlernen, Vorurteile abbauen, mit einander befreundet sein?! Wenn man dort nämlich anfängt zu trennen, erreicht man genau das Gegenteil: Man wächst nicht zusammen, man guckt sich nur noch an... Wer glaubt, dass die schulischen Probleme der türkischen Kinder dadurch gelöst werden, dass sie auf türkische Schulen gehen, irrt sich! Es hängt nicht an der Sprache, sondern am Bildungsbewusstsein des Elternhauses.

Recep Tayyip Erdogan
Recep Tayyip
Erdoğan im Wahlkampf in Istanbul | Quelle: wikipedia.de

Nehmen wir an, wir hätten wirklich türkische Schulen, und die Kinder kämen mit Abschlüssen von diesen Schulen, da frage ich, welche Chancen hätten sie auf dem deutschen Lehrstellenmarkt, welche Chancen hätten sie an deutschen Universitäten?!

Wenn Chancengleichheit wirklich gegeben wäre, dürfte doch dieses Bedürfnis gar nicht da sein... wie erklären Sie sich denn den Wunsch einiger türkischer Migranten nach „eigenen Schulen“?

Die Wunsch entspringt der Fehleinschätzung, dass die Kinder an deutschen Schulen erfolglos sind, weil sie eine andere Muttersprache haben. Das ist natürlich nicht richtig, diese Kinder sind deswegen in der Schule benachteiligt, weil sie auch benachteiligten Familien entstammen, in denen eben nicht, „ganz normale“ kulturelle Fertigkeiten eingeübt werden, die man im Schulleben braucht.

Migrantenkind in Bochum Foto: Atmantis
Kind aus Migrantenfamilie in                
Bochum | Foto: Atmantis
Wenn Kinder in die erste Klasse eingeschult werden und nicht mit einer Schere umgehen können, können nicht kleben, können nicht malen, hatten keine Spielsachen, mit denen sie die vorschulischen Fertigkeiten üben konnten, sind sie benachteiligt. Wenn dann noch ihre „Halbsprachigkeit“ dazu kommt, sind sie noch einmal benachteiligt! Wir brauchen kein Parallelschulsystem; wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir sozial benachteiligte Kinder aus Migrantenfamilien – nicht alle Kinder aus Migrantenfamilien sind benachteiligt – ganz früh fördern können.

Wir müssen aufhören, soziale Probleme zu ethnisieren. Genauso müssen auch die Zugewanderten aufhören, ihre Probleme zu ethnisieren. Das heißt, türkische Migranten erkennen nicht, dass ihre Probleme soziale Probleme sind und ethnisieren sie. Die müssen davon genauso runter, wie eben auch Menschen in der Mehrheitsgesellschaft, die denken: „Türken haben Probleme, weil sie Türken sind...“ und nicht, weil sie etwa sozial benachteiligt sind. (PK)

Online-Flyer Nr. 135  vom 27.02.2008



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