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Literatur
Rezension von „Poems from Guantánamo”, Herausgeber Marc Falkoff
Guantanamo spricht – die Rückkehr politischer Lyrik?
Von Gerrit Wustmann

„Diese Gedichte sind ein bemerkenswertes und bewegendes Testament der Kraft des menschlichen Geistes“, urteilte Amnesty International zu der von dem US-Anwalt Marc Falkoff edierten Anthologie „Poems from Guantánamo. The Detainees speak“, die kürzlich erschien. Falkoff versammelt in ihr 25 Texte von gegenwärtigen und ehemaligen Gefangenen des US-Lagers auf Kuba.


Guantanamo Camp Delta verhaftung
Einlieferung nach Guantanamo – ein Alptraum wird lebendig
Foto: Mit freundlicher Genehmigung der US-Regierung

Falkoff gehört zu den wenigen Anwälten, die schon früh vollständigen Zugang zu den einzelnen Camps des Lagers erhielten. Es braucht kaum noch erwähnt zu werden, dass er in hohem Maße über die herrschenden Zustände schockiert war – Gefangene, die, ohne jegliche offizielle Anklage, ohne Kontakt zur Außenwelt oder zu ihren Familien auf unbestimmte Zeit interniert sind, zahlreichen Folterungen und Misshandlungen ausgesetzt werden, und die auf adäquate medizinische Betreuung vergeblich hoffen.

„Sicherheitsrisiko Poesie“

Umso überraschter war er über die Tatsache, dass viele von ihnen Gedichte schreiben. Zuerst auf Toilettenpapier, Pappbechern und ähnliche Materialien, da den Gefangenen Papier und Stifte bis 2003 vorenthalten wurden. Als Falkoff Interesse an den Texten signalisierte, bekam er Antwort aus dem Pentagon. Man werde ihm freigegebenes Material zur Verfügung stellen, was im Klartext bedeutet, dass der Großteil der Gedichte in Washington unter Verschluss gehalten wird. Zudem erhielt Falkoff nicht die Originaltexte, sondern nur von der CIA veranlasste Übertragungen ins Englische. Das ist nicht nur aus literarischen Gesichtspunkten eine traurige Tatsache. Man kann zwar einige Wortspiele der arabischen Originale erahnen, letzten Endes kann man aber die Feinheiten der Texte nur erahnen. Das Pentagon argumentiert damit, dass Poesie „ein besonderes Risiko“ für die nationale Sicherheit darstelle. Der Geheimdienst befürchtet, dass über die Gedichte versteckte Botschaften nach außen getragen werden könnten.


guantanamo Arrestblock Camp Delta
Erinnert in vielerlei Hinsicht an ein Nazi-KZ
Foto: Mit freundlicher Genehmigung der US-Regierung

Einerseits ist das eine erschütternde Haltung, die sehr deutlich die fatale Geisteshaltung der US-Behörden aufzeigt, andererseits kann man diese Fakten aber auch positiv deuten. Das mächtigste Land der Welt hat Angst. Angst vor Gedichten und deren möglicher Wirkung.

Man kann die Frage stellen, ob dies eine Renaissance der politischen Lyrik bedeutet. In Deutschland waren die 70er die letzte Hochphase politisch motivierter Dichtung, mit kleinen Nachwehen in einigen Arbeiten des Social Beat in den frühen 90ern. Vordergründig zeichnete sich diese Lyrik durch ihre Mängel an stilistischen Fertigkeiten aus. Formal und sprachlich war sie eher platt und anspruchslos, inhaltlich wurde draufgeschlagen – auf Politikervisagen, auf das Spießbürgertum, auf die Kriegstreiber im Weißen Haus und deren Lakaien in Bonn.

Auf der anderen Seite gab und gibt es diejenigen Lyriker, die ihre politischen und gesellschaftskritischen Botschaften subtiler arrangieren. Das gilt für beinahe den gesamten Expressionismus, für die zwischen 1933 und 45 entstandene Literatur. Es gilt auch für die meisten DDR-Autoren, von denen viele sich dem System anbiederten, andere, wie beispielsweise Heinz Kahlau, sich vom ansatzweise Systemtreuen zum geschickt taktierenden Systemkritiker wandelten.  

Social Beat mit orientalischen Elementen

Die Lyrik aus „Gitmo“ erinnert formal – jedenfalls in den Pentagon-Übertragungen – am ehesten an einen „Social Beat“ mit orientalischen Elementen. Das mag vordergründig daran liegen, dass die Gefangenen dort im Grunde keine Lyriker sind. Sie nutzen die Lyrik als Ventil, um gegen die herrschenden Verhältnisse zumindest in geistiger Form anzugehen und ihre persönliche Verzweiflung in überschaubare Bahnen zu lenken. Letzteres ist ein Motiv, von dem sich wohl die wenigsten Schriftsteller freisprechen können, wie vor wenigen Jahren Jonathan Franzen betonte. Zu jeder Zeit waren es die Schriftsteller, die in ihren Texten Missstände anprangerten. Und gerade unter widrigsten Umständen begannen auch Nichtliteraten, in schriftlicher Form das Erlebte zu reflektieren.


guantanamo x-ray detainees lager
Tiere werden menschlicher „gehalten"
Foto: Mit freundlicher Genehmigung der US-Regierung

Hinzu kommt, dass Lyriker gerade im arabisch-islamischen Kulturraum hoch angesehen sind:  Die gekonnte Verwendung von Sprache bringt Respekt, ganz im Gegensatz zu den westlichen Konsumgesellschaften, wo Lyrik mehr und mehr untergeht. Der Koran, an dem sich auch im vorliegenden Band mehrere Autoren orientieren, und der das einzige im Lager erlaubte Buch ist, hat im arabischen Original die Form eines Langgedichts. Die umfassende sprachliche Wirkung des Koran beschreibt der Kölner Orientalist Navid Kermani in seiner Dissertation „Gott ist schön“ (C.H. Beck, 1999).

„In der Bitterkeit der Kälte saßen wir“

Shaikh Abdurraheem Muslim Dost ist ein Schriftsteller aus Pakistan, der mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht hat. Im Jahre 2005 wurde er entlassen, 2006 publizierte er gemeinsam mit seinem Bruder seine Erinnerungen an Guantánamo. Kurz darauf wurde er von pakistanischen Geheimdienstlern inhaftiert – seither fehlt von ihm jedes Lebenszeichen. In einem seiner Gedichte schreibt er: „Eid [1] kam, aber mein Vater kam nicht. / Er kommt nicht aus Kuba. // Zu Eid esse ich mein Brot mit Tränen / Ich habe nichts.“ [2]

Der 14jährige Mohammed Al-Gharani wurde schon 2001 als einer der ersten „feindlichen Kämpfer“ nach Kuba verschleppt. Er ist derzeit einer von 29 minderjährigen Gefangenen, für die die USA die Genfer Konventionen außer Kraft setzen. Auch er wurde gefoltert. Sein Gedicht mit dem schlichten Titel „Das erste Gedicht meines Lebens“ gehört zu den literarisch besten und inhaltlich erschütterndsten des Bandes. „In der Dunkelheit des Gefängnisses verteilten sie uns; / In der Bitterkeit der Kälte saßen wir. (…) / Ihr Krieg ist ein Krieg gegen Islam und Gerechtigkeit.“

Sami Al-Haj ist Journalist aus dem Sudan. Vor seiner Gefangennahme arbeitete er für Al-Jazeera: „Die Unterdrücker spielen mit mir, / während sie sich frei in der Welt bewegen. / Sie wollen, dass ich denunziere / und behaupten, das sei eine gute Tat.“

Viele schreiben über die Sehnsucht nach ihren Frauen und Kindern, andere klagen die Verbrechen an, die an ihnen begangen werden. Wieder andere rufen Gott um Hilfe an. Verzweiflung und Ungläubigkeit sind allgegenwärtig. Man muss den Texten zugute halten, dass keiner ihrer Verfasser sie für ein Publikum schrieb. Ohne Falkoffs mutiges Engagement wären die vorliegenden Verse kaum an die Öffentlichkeit gelangt. Das allein ist ihm hoch anzurechnen.


Guatanamo Skulptur Jose Antonio Elvira Zosimo
Wiedererkennungseffekt: Guatanamo-Skulptur von José Antonio Elvira
Foto:
Zosimo CC | Quelle: wikipedia.de

Die Gedichte sind ein Zeitdokument von unschätzbarem Wert. Nur mit Schaudern kann man sich ausmalen, welche Grausamkeiten sich noch in den CIA-Archiven verbergen angesichts dieser wenigen Werke und dem, was sie offenbaren. (CH)

[1] Eid ist das islamische Neujahrsfest zum Frühlingsanfang
[2] Alle Übertragungen ins Deutsche vom Verfasser

Online-Flyer Nr. 125  vom 12.12.2007

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