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Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

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Globales
Der Politologe Matin Baraki über das afghanische Desaster
Wem gehört Afghanistan?
Von Ali Safaei-Rad und Hans-Detlev v. Kirchbach

„Die Reise der Bundeskanzlerin war eigentlich nicht für (die) Afghanen gedacht, sondern ging an die Adresse der Deutschen. Für die afghanische Bevölkerung hatte das überhaupt keine Bedeutung.“ Diese Anmerkungen Matin Barakis zum Afghanistan-Besuch Angela Merkels, konkret: beim Militär und im Kabuler Präsidentenpalast, sind typisch für den in Afghanistan gebürtigen Politikwissenschaftler. Seine Landeskenntnisse und seine wissenschaftlichen Forschungen führen ihn seit eh und je in scharfe Gegenposition zur offiziellen Sicht auf Afghanistan und den sogenannten Mittleren Osten.

Querdenker Matin Baraki
Quelle: Forum Augsburg
Matin Baraki, heute Dozent an den Universitäten Marburg, Münster, Kassel und Gießen, war Zeitzeuge der Sowjetbesatzung Afghanistans ebenso wie dessen Talibanisierung. Und auch die Zustände im Lande seit dem Einmarsch des US-Militärs kennt er aus eigener Anschauung. Seine zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und seine scharfe kritische Analyse sind freilich nicht immer erwünscht, denn sie ergeben ein radikal anderes Bild der Geschichte seines Landes und vom Leben der Menschen unter der ausländischen Militärpräsenz als jenes, das Regierungserklärungen und Leitartikel meist vermitteln wollen.

 
Unerwünschter Besuch: Von Alexander bis Angela
 
„Afghanistan ist eigentlich ein armes Land. Wir haben kaum Rohstoffe. Aber Afghanistan ist ein Land von großer geostrategischer Bedeutung. Das war immer so in der afghanischen Geschichte, und diese geostrategische Bedeutung ist zum Verhängnis geworden für Afghanistan.“
 
So fasst Baraki den vieltausendjährigen Fluch zusammen, der über der Geschichte seines Landes lastet. Die unwegsamen und über 4000 Meter hohen Berge des Hindukusch waren häufig Schauplatz fremder Eroberungsversuche – von Alexanders Expansionskriegen bis zu Bushs Anti-Terror-Feldzug. Und natürlich dem Propaganda-Einflug Angela Merkels.

Sowjetunion Panzer Afghanistan Rückzug
Sowjetische Tanks auf dem Rückzug aus Afghanistan, 1988
Quelle: wikimedia
| Foto: Mikhail Evstafiev

„Unsinkbarer Flugzeugträger“
 
Dass er nach seinen Beutezügen auf den größten Ölvorkommen der Welt saß, lag freilich noch weit außerhalb der Gedankenwelt Alexanders des Großen. Doch für die modernen Beutemacher steht die Begehrlichkeit nach Energievorkommen im Vordergrund ihrer Hindukusch-Expeditionen. Denn das randständige Afghanistan ist ein zentrales Verbindungsglied zwischen der kaspischen Region über Pakistan zum Indischen Ozean. Baraki: „Afghanistan hat Pakistan als Nachbarn, im Osten. Pakistan ist einer der wichtigsten Verbündeten der Vereinigten Staaten. Im Westen haben wir Iran, einen der wichtigsten Rohstoff-Exporteure der Welt. Im Norden haben wir Mittelasien, nicht so weit Kaukasus. Und von Afghanistan aus ist es bis zum Irak, bis zur Region, aus der das schwarze Gold kommt, ein Katzensprung. Afghanistan ist ein unsinkbarer Flugzeugträger für die Vereinigten Staaten und jetzt auch für die NATO. Darin liegt die Bedeutung dieses Landes.“
 
Kein Wunder also, dass auch eine noch zweitrangige Macht wie Deutschland ihre Interessen erklärtermaßen am Hindukusch „verteidigt“.
 

Afghanistan Frauen U.S. Marines
              Quelle: U.S. Dept. of Defense

Afghanische Ökonomie 1: Die „Drogenbarone“
 
Doch – so jedenfalls Barakis Wahrnehmung – das Durchzugsgebiet zu den größten Reichtümern der Welt ist und bleibt eines der Armenhäuser auf diesem Planeten: „Im Moment hat Afghanistan gar nichts. Der afghanische Wirtschaftsminister sagt: 99 % aller Waren, die Sie auf dem afghanischen Markt bekommen, sind Importwaren. Das bedeutet: Mit diesem armen Afghanistan, Habenichts-Afghanistan, kann man gute Geschäfte machen.“
 
Gute Geschäfte auch mit dem einzigen Produkt, das, Baraki zufolge, dort überhaupt noch in großem Stil hergestellt wird, nachdem jahrzehntelanger Krieg die einstige landwirtschaftliche Selbstversorgung Afghanistans fast restlos vernichtet hat.
 
„Die afghanische Wirtschaft ist vor allem seit der Invasion der USA zerstört. In Afghanistan wird nichts, überhaupt nichts, produziert. Außer Mohn. Vor der Intervention der USA wurde nur an den Grenzen der Provinzen zu Pakistan Mohn angebaut und weiter verarbeitet. Seit der Besetzung durch USA und NATO wird in allen 32 Provinzen Afghanistans Mohn angebaut und zu Drogen verarbeitet.“
 
Unter den Augen der NATO verdienen Warlords und auch Verwandte des Präsidenten Karzai am Drogenhandel. „Die Drogenbarone sind zum Teil Minister, Gouverneure, Generäle. Als ich vor zwei Jahren in Afghanistan war, wurde der britische Botschafter einbestellt zum Präsidenten Karzai, weil die britische diplomatische Vertretung einen Bericht veröffentlicht hatte, dass der Bruder Karzais, beziehungsweise die gesamte Familie Karzai, im Drogengeschäft mitmacht. Der Botschafter ist abberufen worden. Und heute pfeifen alle Spatzen von den Dächern, dass die Familie Karzai ganz tief im Drogengeschäft mitmacht. Ein Bruder von Karzai, er ist Ratsvorsitzender der Provinz Kandahar, kassiert jährlich 20 Millionen Dollar Schutzgelder von Drogenhändlern. Es gibt im afghanischen Innenministerium verschiedene Staatssekretäre. Einer von denen ist zuständig für Drogenbekämpfung.Und seine gesamte Familie betreibt selber Drogenhandel.“

Bush Karsai Rice Afghanistan
Zu Besuch bei Freunden?
Quelle: Weißes Haus | Foto: Eric Draper

 
Afghanische Ökonomie 2: Kolonialwirtschaft
 
Der erste Finanzminister der Regierung Karzai stellte denn auch fest, Afghanistan sei ein „Drogen-Mafia-Staat." Er wurde, so Baraki, von seinem Posten entfernt. Ansonsten wird in Afghanistan aber so gut wie nichts verdient. Wie in alten Kolonialzeiten bleiben der einheimischen Bevölkerung nur die nackte Armut oder Hand- und Spanndienste für ausländische Residenten.
 
„Ein afghanischer Professor verdient im Monat 300 Dollar. Ein einziges Zimmer in Kabul kostet 300 Dollar. Es gibt viele Professoren, Lehrer und andere Fachkräfte, die haben ihre Arbeit aufgegeben, die arbeiten als Bodyguards oder als Dolmetscher oder als Putzkräfte bei den NGOs oder internationalen Militärs.“
 
Das Elend weiter Bevölkerungskreise führt nach Beobachtung Barakis dazu, dass sich in Städten wie Kabul immer mehr Frauen prostituieren. Kundschaft für solche Dienstleistung gibt es unter den ausländischen Militärangehörigen, aber auch unter den Mitarbeitern der zahlreich vertretenen NGOs, genug. Eigentlich unvorstellbar in einem so traditionell orientierten Land, meint Matin Baraki.
 
„Ich war morgens früh auf dem Wege zur Bäckerei. Ich bin von einer Frau angesprochen worden, ob ich die Möglichkeit hätte, sie mitzunehmen. Dann hat sie mir erklärt, sie wolle sich prostituieren. Sie sagte, sie habe keinen Mann, sie habe kleine Kinder und eine alte Mutter. Sie müssten was zu essen bekommen. Das ist vor drei Jahren passiert, und das vergesse ich einfach nicht. Und heute gibt es alleine in Kabul 55.000 Witwen, um die sich niemand kümmert, auch die internationale Gemeinschaft nicht.“
 
„Aufgebaut“, so Baraki, wird in Afghanistan vor allem das, was für die Unterbringung und Versorgung der Kolonialtruppen und zivilen NGOs erforderlich sei. Aufgebaut werde freilich auch im Süden des Landes, wo die Taliban wieder oder noch die Kontrolle ausübten.

U.S. Marines Afghanistan 2005
U.S. Marines in Afghanistan, 2005
Quelle: U.S. Dept. of Defense
| Foto: Lance Cpl. Justin M. Mason

Taliban – erst Handlanger, dann Hauptfeind

 
Überhaupt – die Taliban. Als Inkarnation des Bösen gehandelt, waren sie ursprünglich – wie im Irak einst Saddam Hussein – ebenfalls Geschöpfe der USA. Wie zuvor die Mudjaheddin, die sich nach ihrem Sieg über die UdSSR gegenseitig blutig bekämpften, wurden sie von den USA als Handlanger zur Durchsetzung ihrer regional-strategischen Interessen und Ölgelüste hochgezogen, finanziert und von Pakistan nach Afghanistan eingeschleust. Denn die Mudjaheddin behinderten durch ihren Bürgerkrieg die Befriedung des Landes. An der war den USA gelegen – Ruhe sollte herrschen auf dem „unsinkbaren Flugzeugträger“. Diese sollten die Taliban herstellen, doch als auch ihnen das nicht gelang, so Baraki, wurden sie „fallengelassen“. Erst als sie ihre „Aufgabe nicht zur Zufriedenheit erfüllten“, entdeckte die sogenannte internationale Gemeinschaft plötzlich, dass es sich bei ihnen um religiös fanatisierte Tyrannen, um Frauenschinder und, spätestens seit dem 11. September, um „Terroristen“ handelte. 
Und überhaupt: der 11. September. Ohne sich auf Spekulationen über die Urheberschaft dieses Attentats mit mehr als 3000 Opfern einzulassen, fasst Baraki die zentrale Bedeutung dieses Datums für die US-amerikanische Expansionsstrategie in einem Satz zusammen: „Hätte es den 11. September nicht gegeben, man hätte ihn erfinden müssen.“ Dabei, so plauderte u.a. der ehemalige pakistanische Außenminister kürzlich aus, lagen die Pläne für einen Einmarsch in Afghanistan schon Monate vor dem 11. September in den Schreibtischschubladen der US-Administration.
 
Kriegsschauplatz und Strategiestaffage
 
Die Perspektive bleibt für Baraki trostlos. Denn letztlich interessiere die „internationale Gemeinschaft“ in Gestalt der westlichen Interventionsmächte vor allem die rein strategische Funktion Afghanistans. Truppen sollen durch das Land ziehen und vielleicht auch noch eine lang geplante Öl-  und Gaspipeline hindurch gezogen werden. Die Menschen Afghanistans sind dafür, so meint Baraki, letztlich nur Staffage, aller Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik zuwider. Doch Baraki kennt seine Landsleute – sie haben fremde Besatzung zwar „schon oft erdulden müssen, aber doch noch nie ertragen“. Fremde Besatzer sind in Afghanistan bislang stets gescheitert, allen voran Briten und Sowjets.

Afghanistan Veränderung Tornadoeinsatz
              Quelle: U.S. Dept. of Defense

Deutsches Kriegsdebakel am Hindukusch
 
Eine historische Lehre, die sich auch die Deutschen vor Augen halten müssten, warnt Baraki. „Das afghanische Volk hat die Nase voll von fremden Besatzern. Auch von deutschen. Vor allem, seit die Deutschen dem Tornadoeinsatz zugestimmt haben. Als der Tornado-Einsatz hier in der Diskussion war, war ich in Afghanistan. Da haben mir die Afghanen erklärt: Das ist eine Kriegserklärung an unsere Adresse. Weil die Tornados Bedingungen schaffen für Bombardements seitens der NATO und der USA. Davor hatte man eine relativ positive Einstellung zu den Deutschen. Aber jetzt sind die Deutschen Teil der kriegführenden Mächte. Und auch deswegen hat es danach mehrere Anschläge gegeben, bei denen auch deutsche Soldaten ums Leben gekommen sind.“ (YH)

Online-Flyer Nr. 122  vom 21.11.2007



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