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Globales
Vertrag von Lissabon treibt EU-Militarisierung weiter voran
Blaupause für einen weltweiten Antiterrorkrieg
Von Martin Hantke und Tobias Pflüger

Der in der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober verabschiedete sogenannte Reformvertrag ist ebenso wie sein Vorgänger, der EU-Verfassungsvertrag, ein militaristischer Vertrag. Mit ihm soll die rechtliche Grundlage für eine globale Kriegsführungsfähigkeit der Europäischen Union geschaffen werden. Die EU-Militarisierung wird weiter vorangetrieben. Im Militärteil ist er bis in die einzelnen Formulierungen hinein identisch mit dem EU-Verfassungsvertrag und die „gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ soll zum integralen Bestandteil der gemeinsamen Außenpolitik werden.

Demonstration EU-Vertrag Lissabon
200.000 demonstrierten in Lissabon gegen den Reformvertrag
Quelle: indymedia | Foto: Hellas


Ohne gerichtliche und parlamentarische Kontrolle

Die Zuständigkeit der EU soll sich „auf sämtliche Fragen in Zusammenhang mit der Sicherheit der Union“ beziehen, der Europäische Gerichtshof jedoch wird in Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik der EU „nicht zuständig“ sein (Art. 11). „Die Auffassung des Europäischen Parlaments“ hingegen sollen, was immer das heißen mag, „gebührend berücksichtigt werden“ (Art. 21, 1) und man will einen eigenen EU-Haushalt für Militäroperationen – geradezu liebevoll Anschubfonds genannt – etablieren (Art. 26). Explizit festgehalten ist, dass dieser Anschubfonds in Anspruch genommen werden kann, wenn eine geplante Operation aus rechtlichen Gründen nicht aus dem Haushalt der Union finanziert werden kann. Der Fonds soll demnach weder der Kontrolle des Europäischen noch der nationalstaatlichen Parlamente unterliegen.

 
Aufrüstungsverpflichtung
 
Auch die Aufrüstungsverpflichtung des EU-Verfassungsvertrags hat ihren Weg in den Reformvertrag gefunden: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Art. 27, 3). Die EU-Rüstungsagentur – im Orwellschen Sprachgebrauch der EU-Rechtsexperten ,Verteidigungsagentur genannt’ – soll laut Reformvertrag u. a. „Maßnahmen zur Bedarfsdeckung“ an Rüstungsgütern fördern, zur „Stärkung der industriellen und technologischen Basis“ des Rüstungssektors beitragen und sich „an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung“ (Art. 27, 3) beteiligen. Auch Rüstungsforschung soll auf ihrer Agenda stehen (Art. 30, 1d). Zudem sollen zweckdienliche Maßnahmen „für einen wirkungsvolleren Einsatz der Verteidigungsausgaben ermittelt werden“. Rüstungsprojekte sollen auch dadurch befördert werden, dass sich innerhalb der Rüstungsagentur „spezielle Gruppen“ von Mitgliedsstaaten zusammenschließen, „die gemeinsame Projekte durchführen“ (Art. 30, 2).
 
Militärische Interventionen weltweit
 
Eine offensive militärische Interventionspolitik der EU ist im Reformvertrag vertraglich verankert. Auch wenn die Nationalverfassungen einzelner beteiligter Staaten den Einsatz von Streitkräften jenseits der Territorialverteidigung nicht vorsehen, sollen die Mitgliedsstaaten der EU doch „für die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (Art. 27, 3) u. a. „militärische Fähigkeiten“ zur Verfügung stellen. Mit diesen militärischen Mitteln sollen „außerhalb der Union“ sogar „Abrüstungsmaßnahmen“, „Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung“ und „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung“ durchgeführt werden.
 
Die EU will sich also das gesamte Einsatzspektrum der neuen Kriege vertraglich sichern. Besonders pikant ist dabei, dass all diese Missionen „zur Bekämpfung des Terrorismus“ beitragen sollen, „unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“ (Art. 28, 1) Das darf mit Fug und Recht als vertragliche Blaupause für einen weltweiten Antiterrorkrieg der EU bezeichnet werden.


Quelle: Guerilla Art | cc-by-sa

Kerneuropa, EU und NATO
 
Auch militärische Avantgarde-Konzepte sollen mit dem neuen EU-Reformvertrag machbar sein. Im Rahmen einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ können sich einzelne EU-Mitgliedstaaten zusammenschließen, um Militärinterventionen durchzuführen. Zugleich soll die gesamte EU-Militärpolitik an die NATO gebunden sein (Art. 27, 7). Damit würde eine bereits bestehende Praxis legalisiert, denn diese Art der institutionalisierten Kooperation wird bei EU-Militäroperationen bereits angewandt. Zum Beispiel für die paramilitärische EU-Polizeiausbildungsmission in Afghanistan seit 1. Juli ist die NATO- und US-Unterstützung explizit festgehalten. Im Bericht des EU-Rates zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vom 18. Juni 2007 heißt es dazu: „Das Generalsekretariat des Rates arbeitet auch eng mit dem internationalen Personal der NATO und mit den USA zusammen: mit der NATO hinsichtlich der Bereitstellung technischer Unterstützung im Einsatzgebiet durch die ISAF und mit den USA, weil diese ein entscheidender Partner bei der Koordinierung der Vorgehensweise bei den Reformbemühungen sein werden.“
 
Militäreinsatz im Inneren
 
Zuletzt findet sich auch die militärische „Solidaritätsklausel“ (Art. 188) im Entwurf des Reformvertrags wieder. Diese besagt, dass die EU „alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel“ mobilisiert, um „terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden“. Dies bedeutet nichts anderes als den Einsatz von Militär im Inneren der EU zur Abwendung von sogenannten Terrorgefahren. Damit soll auch EU-vertraglich eine weitere Militarisierung der EU-Innenpolitik ermöglicht werden.
 

Meine Grundrechte in der Europäischen Union
Foto: S. Hofschlaeger | Quelle: pixelio







Unter Ausschluss der Öffentlichkeit

So liefert der Reformvertrag (auch „Vertrag von Lissabon" genannt) die militärische Ergänzung zur neoliberalen europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik, die ebenfalls weiter fortgeschrieben wird. Der Vertrag soll am 13. Dezember in der portugiesischen Hauptstadt endgültig unterzeichnet und anschließend durch die nationalstaatlichen Parlamente ratifiziert werden. In nahezu allen EU-Mitgliedstaaten soll die Bevölkerung nicht mehr über den neuen EU-Vertrag abstimmen können.
 
Ohne öffentliche Debatte - geschweige denn Abstimmung - sollen zentrale Bestimmungen des EU-Verfassungsvertrags klammheimlich durchgesetzt werden, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Reformvertrag ist deshalb umso notwendiger. (YH)

Mehr auf der Sonderseite der Informationsstelle Militarismus zum EU-Reformvertrag

Online-Flyer Nr. 118  vom 24.10.2007

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