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Kultur und Wissen
Kai Olaf Hesse: „Topography of the Titanic"
Spuren einer untergegangenen Zukunft
Von Peter V. Brinkemper

Vielleicht ist ja schon alles über die „Titanic“ als angeblich unsinkbares Wohlstands- und Überheblichkeits-Symbol ihrer Zeit gesagt. Vielleicht hat Hollywood zuletzt mit James Camerons digital aufbereiteter Katastrophen- Romanze „Titanic“ Unüberbietbares zwischen Fiktion und Dokumentation, Liebesgeschichte und detaillierter Rekonstruktion geleistet, vor allem am Ende, in den kalten atlantischen Fluten der Zerstörung und des Untergangs.

Die sinkende Titanic, Modell im Ulster Folk and Transport Museum
Foto: Kai-Olaf Hesse, 2003

Kai Olaf Hesses soeben erschienener Fotoband „Topography of the Titanic“ sucht einen neuen Zugang an Land, und am Beginn der Geschichte steht Belfast als Ort, an dem das British Empire Schiffe in großen Dimensionen für zivile und militärische Zwecke bauen ließ, relativ preiswert und geschützt vor Angriffen aus Europa. Hesses Fotografien zeigen die historischen Spuren,
Architekturen, Fragmente, Modelle und Dokumente, die in Belfast heute noch das waghalsige Unternehmen einer versunkenen Epoche wach halten.

Fotografisches Spiel zwischen distanzierter Dokumentation und Imagination

In seinem Begleittext schreibt Ian Walker, dass die Titanic-Katastrophe immer noch die Suche nach einer schlüssigen Erklärung verlange. „Einige“, so Walker, „haben die Erklärung in der Nachforschung über jede Einzelheit der letzten entscheidenden Ereignisse gesucht, andere, indem sie in die Tiefen des Ozeans hinabtauchten, um das Wrack zu untersuchen. Ich bin einfach hier in Belfast, um die Orte zu finden, wo die Geschichte ihren Anfang nahm. Aber ich weiß, dass ich nicht einfach zurückgehen kann zu diesem Anfangspunkt mit der angeblichen Unschuld eines unverfälschten Blicks. Denn zum einen ist mein Kopf voll... mit Titanic-Bildern, Geschichten und Filmfragmenten. Zum anderen trage ich in meiner Tasche einen Stapel Fotos mit herum, die der deutsche Fotograf Kai-Olaf Hesse hier vor Ort 2003 aufnahm und die bereits die Art und Weise filtern, in denen ich diesen Ort sehe.“
Schiffskonstruktionspläne, gelagert im Alten Hauptbüro, Queen’s Road
Foto: Kai-Olaf Hesse, 2003

Hesses Sicht habe nichts mit den angelsächsischen Mythen und deutschen Neid-Ideologien zur Titanic zu tun. Er verkörpere eine Neuauflage der „New Objectivity“, der „Neuen Sachlichkeit“, auf die sich die internationale Fotografie immer wieder gerne als deutsche Stilgrundlage der 20er Jahre beruft. Zwischen den kahlen Aufnahmen der Jetztzeit und den imposanten Prospekten der Vergangenheit klaffe ein unüberbrückbarer Abgrund des Verstehens, so Walker.

Das Büro für Schiffsentwürfe, 1912
Foto: Photographic Archives of the National Museums Nothern Ireland
Wenn man so will, ist es vor allem die Ernüchterung der Idee der Zukunft, die Hesses Bildwelten beherrscht und die auch Walker fasziniert: Eine Zukunft, die auf dem damaligen Stand der sozialen und technischen Evolution einfach, quasi durch Ingenieurskunst, konstruierbar gewesen wäre, hat sich offenbar in der Vergangenheit verloren. Die neue Zukunft ist eine skeptische Haltung, die aus dem Heute heraus ihre eigene, noch unklaren Optionen belauert.
Büro für Schiffsentwürfe an der Queens Road, 2003
Foto: Kai-Olaf Hesse, 2003

Entsprechend respektiert Hesse in jeder seiner Aufnahmen den Unterschied zwischen distanzierter Dokumentation und imaginativer Erinnerung oder futurischer Projektion. Und doch drängt es ihn immer wieder, über die trockenen Fragmente und Ruinen der Gegenwart hinaus einzutauchen in die Bildwelten der Archive, um die Modelle und Ansichten der früheren Epoche ein Stück weit „beim Wort“ zu nehmen. Auf diese Weise geht er in seinen Bildern auf große Fahrt, zwischen dem heutigen städtisch-postindustriellen Alltag und der Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Einer Zeit, in der am Himmel die Eisenkonstruktionen endlos und unbegrenzt in den Himmel schossen. Gewollt vom unternehmerischen Expansionsdrang einer frühmodernen Wirtschaft, am Zeichenbrett von Ingenieuren geplant und Schritt für Schritt von Arbeitern realisiert. Hesse bedient sich einer Bildersprache zwischen gegenwärtiger Nüchternheit und Flaute und jener vergangenen Hochwelle aus fortgeschrittener, hyperbolischer Technik und harter Arbeit, deren Einsatz dann zu einer der ersten durch die Telegrafie massenmedial verbreiteten Schreckensnachrichten führte, und zwar vom Ende einer ganzen Ära.

Beginn der Arbeiten am Rumpf der „Olympic" 1909
Foto: Photographic Archives of the National Museums Nothern Ireland

Einige Daten zur katastrophalen Überheblichkeit
Am 31. März 1909 wurde die Titanic, 15 Wochen nach ihrer Schwester „Olympic“ auf Kiel gelegt in der Werft von Harland & Wolff Ltd. in Belfast. Sie baute fast alle Schiffe für die Reederei White Star Line Company. Das dritte Schiff hieß ursprünglich „Gigantic“, aber wurde flugs nach Desaster der Titanic in „Britannic“ umgetauft.
Überbleibsel der Gleitbahn für den Rumpf der Titanic auf Queen’s Island
Foto: Kai-Olaf Hesse, 2003
Die Titanic kostete vollständig ausgerüstet etwa 1,5 Millionen Pfund, beziehungsweise, nach dem damaligen Wert der Währungen, ungefähr 7,5 Millionen US-Dollar. Nach heutiger Kaufkraft entspräche das etwa 400 Millionen US-Dollar.

Bei aller Opulenz der Ausstattung wurde die Anzahl der Rettungsboote auf Initiative Bruce Ismays, des Geschäftsführers der Reederei, von geplanten 64 auf 20 reduziert, um die Aussicht auf dem Promenadendeck freizuhalten und die Gäste (maximal 2400, bei rund 900 Mann Besatzung) nicht unnötig durch Vorsorge für einen unmöglich gehaltenen Notfall zu verunsichern. Bei der Jungfernfahrt standen für die Hälfte der 2200 Menschen an Bord Rettungsboote zu Verfügung. Dies war legal, weil die Rettungsvorschriften sich nach geringeren Tonnagen als der Titanic richteten und eine Reduktion von Booten bei großen Schiffen einkalkulierten, wenn die angelegten Schotts das Risiko des Sinkens gering hielten.

Nach der Kollision mit dem Eisberg auf dem Atlantik am 14. April 1912 kam es zum sozialen Kampf der drei Passagierklassen um die Boote, spätestens als deutlich wurde, dass die Titanic durch das Ausweichmanöver in voller Länge seitlich aufgeschlitzt war und trotz der Schottentechnik rasch zu sinken begann. Die anschließende Todesrate des nur zur Hälfte gebuchten Luxusdampfers stieg standesgemäß von 39,5 Prozent in der ersten Klase auf 75 bis 76 Prozent in der 3. Klasse und im Mannschaftsbereich. (CH)

Kai Olaf Hesse: „Topography of the Titanic“
Belfast Exposed Photography ex pose verlag
www.expoxe-verlag.de

www.belfastexposed.org


Die zu Wasser gelassene Titanic 1911, noch ohne die später fertiggestellten Aufbauten mit den drei echten und dem unechten Schornstein
Foto:
Photographic Archives of the National Museums Nothern Ireland

Online-Flyer Nr. 105  vom 25.07.2007

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