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Kultur und Wissen
Ennio Morricone – der Filmkomponist mit einer Botschaft für die Zukunft
Der Morricone-Effekt
Von Peter V. Brinkemper

Anfang des Jahres erhielt Ennio Morricone endlich einen Ehren-Oscar für sein filmmusikalisches Lebenswerk. Immer wieder war er übergangen worden, zuletzt bei Leones ultimativem USA-kritischen Werk „Es war einmal in Amerika“. Dabei ist er ein, wenn nicht der epochale Filmkomponist.

Ein paar Fakten: Morricone ist mehr als nur ein Spaghetti-Western- Komponist und Vielschreiber unter den Film- und TV-Vertonern (im Internet findet man 506 Filmmusiktitel, ohne die immense TV-Produktion). Andererseits komponiert Morricone pro Film ausschnitthafter, fragmentarischer und auch kammermusikalischer als viele Kollegen. Die größeren Leone-Soundtracks auf CD schrumpfen auf jeweils unter einer Stunde zusammen.


Morricone einmal anders – Lesen Sie auch die Rezension
Bild „The Spaghetti Western Orchestra"


Klar, Morricones Musik ist unvergesslich, sie fasziniert immer wieder von neuem. Aber sie hat gegen den bombastisch ausgemalten Orchester-Sound vieler Kollegen etwas Karges, Sparsames, Schweigsames. Morricone setzt sparsam auf einzelne Farben und Register, entmischt, oder kombiniert verhalten und leise, lässt in rezitativisch langen Passagen Einzelinstrumente, Geräusche und Effekte auftreten, die als ärmliche Vagabunden- und Straßenmusik heranziehen. Erst nach längerer „Einleitung“ oder Verzögerung erscheinen musikalische Einfälle dann plötzlich stilistisch transformiert, im vollen, ausführlichen Ornat, im Tutti des Orchesters oder wie in einer Opern-Arie, aber als pauperisierter, verelendeter Nachhall. Diese Kompositionsweise des Fragments und des Mosaiks, also der Präsenz und der Unterbrechung arbeitet sehr bewusst mit der musikalischen Zeit, verengt oder dehnt sie gezielt aus. Wenn man so will ist Morricones Arbeit an der Zeit als Bühne der Motive und Themen sehr ökonomisch und geschickt, aber auch überaus expressiv auf eine coole, zitathafte Weise, die postromantisch zu nennen wäre.

Sparsamkeit der Musik, des Filmeinsatzes und der CDs

Auf den CDs und den alten LPs werden nur die Hauptpassagen gebracht, die filmmusikalische Arbeit geht dann oft einen entscheidenden Schritt weiter. Insofern zehrt der Hörer der Musik immer auch von seiner Erinnerungsarbeit am und im Film. Hierbei ist die Kooperation mit dem großen Regisseur Leone ein wichtiger Faktor:

Das intensive Erlebnis der Musik in „Spiel mir das Lied vom Tod“ liegt in der weitgespannten temporalen Architektur: In langen filmischen Einstellungen mit handlungsarmen Szenen unter freiem Himmel, in Hitze und Staub, oder in paradox verschachtelten, halbzugänglichen Innenräumen, beobachten und belauern sich die zufällig zusammentreffenden Protagonisten. Damit werden zunächst statische und ereignislose Räume im Nirgendwo geschaffen, in denen Geräusch-Effekte, wie Windrad, Fingerknacken, Zugpfeifen das empirische Verstreichen von Zeit wie ein musikalisches Äquivalent markieren. Und erst das qualvolle Mundharmonika-Motiv des überraschend auftauchenden namenlosen Rächers, Charles Bronson, bringt einen ersten frischen Windhauch, einen Anflug von epischen Sinn und Musik in die Abfolge der Bilder.

Dabei liefert Leones Regie im Visuellen bei aller scheinbaren Überdeutlichkeit und Kontinuität der Zustände und Vorgänge einen stringent komponierten, multiperspektivisch zerlegten Bildrhythmus zwischen Wesen und Erscheinung, Absicht und Täuschung. Als geschulter Mitarbeiter der frühen Breitwand-Antiken-Filme (als „Second Unit Director“ in Wylers „Ben Hur“) zeichnet sich Leones Filmwelt durch ein körperintensives Spiel seiner Protagonisten aus, er hat die gladiatorische Kraft und Grobheit der Sandalenfilme in die Aufnahmetechnik differenziert agierender Schauspieler verlegt.

Unberechenbarkeit

Der Haupttrick in Leones großen Filmen wird in der „Dollar“-Trilogie entwickelt, ausgefeilt in „Der Gute, der Böse, der Hässliche“ („Zwei Glorreiche Halunken“), und sowie meisterhaft weitergeführt in der „Amerika“-Trilogie, beginnend mit „Spiel mir das Lied vom Tod“. Die Protagonisten werden konsequent als unberechenbare Vagabunden und Incognito-Künstler behandelt, die ihren Auftritt genießen und ihn so souverän selbst bestimmen (wollen), wie ein virtuoser Musiker. Es sind eher Instrumentalisten als Sänger: Die olympischen Schusskünste der Kopfgeldjäger Lee van Cleef und Clint Eastwood; das Spielwerk der Taschenuhr von Gian Maria Volontè; der noch gravitätisch reitende Henry Fonda als Frank an der bald bis Sweetwater verlegten Bahnlinie, unterlegt mit dem spanischen Finalrhythmus aus Mozarts „Don Giovanni“; das Mundharmonika-Motiv und seine sinfonische Ausweitung beim „Duell um die Erinnerung“ mit Charles Bronson.

Improvisation in der Musik und im Schauspiel

Man stelle sich vor, dass der Dirigent, der eine Partitur und ein eingeschworenes Orchester vor sich hat, geheime Zeichen verabredet, um das gewöhnliche Publikum über die wahren Einsätze und Enden, die Pausen und die Abfolgen, über die Vollständigkeit und die Unvollständigkeit der gespielten Stücke und Passagen, über das Laut und Leise, Schnell und Langsam, über die Uminstrumentierung oder die stilistische Variation völlig im Unklaren zu lassen. Der Dirigent würde sich verwandeln in die unmögliche Figur eines musikalischen Schauspielers, eines spaßenden Komponisten, der vor dem Publikum überraschenderweise improvisiert, und eines ernsthaften Improvisateurs, der im Geheimen weiträumig komponiert, eines ironisch-dialektischen Künstlers, der die offene und die geschlossene Gestaltung von Zeit miteinander verbindet. Das Konzert verliefe vertraut und doch befremdend, klassisch und doch aleatorisch, konservativ und revolutionär.

Collage: Leone/Brinkemper

Genau das praktizieren Leone und Morricone in „Spiel mir das Lied vom Tod“. Der Musiker-Schauspieler geht in sich und dann wieder aus sich heraus, er schielt nicht verzweifelt oder berechnend nach den Zuschauern, er versucht kein bloßer Athlet zu sein, er sucht in der empirischen Zeit, in der ihn das Publikum neugierig studiert, einen absoluten Anfangspunkt, eine Ereignislücke, in dem er unerwartet das Kunstwerk seiner Improvisation hervorbringt, eine bestimmte Figur oder Gestalt, die wie aus einer anderen, chaotischen, irregulären, verwirrten und verwirrenden Zeit voller Schönheit und Grauen über das Publikum hereinbricht und es in einen Alp-Traum-Zustand „versetzt“.

Das ist der Morricone Effekt, der im Verbund mit der Erinnerung an die großen Leone-Filme und im Anklang an Bertolt Brechts recht trockene Theorie vom V-Effekt bis heute eine durchschlagende schauerlich-rührende Wirkung, die einer Katharsis hat, wie sie auch der alte Aristoteles sich nicht heftiger hätte wünschen können. Morricones Ästhetik des Unberechenbaren, des revolutionär mit- und hinreißenden Momentes eines völligen stilistischen Umbruchs und der Verfremdung, bis hin zum Abbruch und zur Stille, die das Filmbild mit einer Wucht ausleuchtet, ist auch ein Vermächtnis für die gegenwärtige Musik und Filmkultur im Zeitalter des i-Pod: Scheinbar alltägliche Mannigfaltigkeit nicht als Beliebigkeit, sondern als tieferliegende Notwendigkeit einer Kunst der Camouflage zwischen Hohem und Niederem zu komponieren. (CH)

Lesen Sie auch dazu in dieser Ausgabe Ennio Morricone Light!"

Mehr unter: www.enniomorricone.it


Online-Flyer Nr. 104  vom 18.07.2007

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