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In Polen droht ein Zeugnis der NS-Judenverfolgung zu verschwinden
Gestohlene Geschichte
Von Christian Ganzer

Erinnerung ist selektiv, die Bewahrung historischer Zeugnisse ebenfalls. So auch in Polen. Während das Gedenken an polnisches Leiden im Zweiten Weltkrieg unter der konservativen Regierung größeres Gewicht erhält, droht im nordpolnischen Sztutowo ein Zeugnis jüdischen Leidens zu verschwinden. Das Warschauer Kulturministerium weiß darum und rührt sich nicht.
Erinnerung hat auch Orte, doch Orte können verschwinden. Am Rande des Dorfes Sztutowo, rund 70 Kilometer östlich von Gdańsk, wurde gleich am Tag nach dem deutschen Überfall auf Polen, am 2. September 1939, das erste deutsche Lager außerhalb des Reichsgebietes in Betrieb genommen.


Wachgang des KZ Stutthof

Das Konzentrationslager Stutthof
 
Stutthof erhielt den Status eines Konzentrationslagers erst im Januar 1942, die Befreiung ließ bis zum 9. Mai 1945 – einen Tag nach Kriegsende – auf sich warten. Über 110.000 Menschen gingen während der beinahe sechs Jahre des Bestehens des Lagers durch das Haupttor, das von den Häftlingen das „Tor des Todes“ genannt wurde. Nur 45.000 von ihnen sollten überleben. 1944 wurde Stutthof in das System der Vernichtung der europäischen Juden einbezogen, vorher diente es vornehmlich der „Germanisierung“ Pommerns.
 
Schon zu Beginn der 1960er Jahre wurde am Ort des ehemaligen KZ eine Gedenkstätte mit einem Museum eingerichtet, dessen Gelände sukzessive erweitert wurde. So konnten viele Schauplätze der nationalsozialistischen Verbrechen, ihre materiellen Zeugnisse als Beweis und Mahnung für die Nachwelt erhalten werden. Bis heute gehört nicht das ganze frühere Lagergelände zur Gedenkstätte, aber – im Prinzip – stehen auch die außerhalb liegenden Objekte unter Denkmalschutz.
 
Die „Neue Küche“
 
Im Prinzip. Denn wenn nicht bald gehandelt wird, wird ein Gebäude bald verschwunden sein. Die so genannte Neue Küche wurde in den Jahren 1943 und 1944 gebaut. Ihre Errichtung stand im Zusammenhang mit Plänen, Stutthof zu einem gigantischen Lager mit bis zu 100.000 Häftlingen zu machen. Der dreiflüglige Backsteinbau wurde jedoch nie als Küche genutzt, die Niederlagen der Wehrmacht an allen Fronten sollten dem Völkermord ein Ende machen.
 
Als im Juni 1944 umfangreiche Transporte jüdischer Häftlinge in Stutthof eintrafen, war kein ausreichender Platz für diese Menschen im Lager vorhanden. Tausende jüdischer Frauen wurden in die Neue Küche gepfercht und ihrem Schicksal überlassen.
 
Das Gebäude fand in der Nachkriegszeit wenig Beachtung. Auch in der Forschungsliteratur wird es eher am Rande erwähnt. Im Jahr 2005 machten sich junge Leute der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ (ASF) im Rahmen eines Sommerlagers daran, die Neue Küche wieder sichtbar zu machen, indem sie das Gelände von Gesträuch befreiten und eine Informationstafel aufstellten, die auf die historische Bedeutung des Gebäudes aufmerksam machen soll.


Fast die Hälfte der Stützpfeiler wurde gestohlen, die „Neue Küche“, in der im Sommer 1944 jüdische Frauen untergebracht wurden, ist akut
einsturzgefährdet

Diebe in Stutthof
 
Für manchen jedoch spielt historische Bedeutung keine Rolle. Die Diebe sind an Dreistigkeit kaum zu überbieten – ein Teil des Pflasters des Vorplatzes der Neuen Küche wurde abgetragen und auch das Holz der Balkenkonstruktion im Innern der Küche weckte Begehrlichkeiten. Zwar patrouilliert die Museumswache auch am eingezäunten Gelände der Neuen Küche vorbei, da diese nachts aber unbeleuchtet ist und von drei Seiten an den Wald grenzt, läßt sie sich praktisch nicht bewachen.
 
Unter Lebensgefahr entfernten die Diebe einen großen Teil der Balken, die die Dachkonstruktion tragen. Sie ließen gerade einmal so viele stehen, dass das Dach nicht in sich zusammenstürzte. Ein Absacken der ganzen umfangreichen Konstruktion war jedoch die unvermeidliche Folge des Diebstahls. Das Dach ist undicht und instabil geworden.
 
Niemand will zuständig sein
 
Die Neue Küche ist das einzig erhalten gebliebene bauliche Zeugnis der Einbeziehung Stutthofs in die Shoah. Denn vom gegenüber liegenden Judenlager ist nichts übrig geblieben als das Gelände. Dieses wurde erst vor wenigen Jahren Teil der Gedenkstätte. Damals rodete man das bewaldete Grundstück und stellte symbolische Steinblöcke und ein Denkmal auf, wo sich früher die Baracken befanden.
 
Dem für die Gedenkstätte zuständigen Kulturministerium ist die Lage bekannt. Unternehmen will man aber nichts und verweist stattdessen auf die Verantwortung des Eigentümers – das ist die Gemeinde Sztutowo. Es sei nicht geplant, das Objekt in den Bestand der Gedenkstätte zu übernehmen, verlautbarte aus dem Ministerium für Kultur und nationales Erbe, wie die volle Bezeichnung lautet. Hier setzt man die Prioritäten deutlich anders: Das Museum erhielt kürzlich vom Ministerium den Auftrag, das Leiden von Polen auch in anderen deutschen Lagern in die Dauerausstellung aufzunehmen. Das Leiden und Sterben von jüdischen Frauen vor Ort gehört vielleicht einfach nicht zum nationalen Erbe. Stutthof wird in erster Linie als Ort des polnischen Martyriums verstanden, obwohl rund die Hälfte seiner Toten Juden waren.
 


Die sowjetischen Soldaten, die Stutthof im Mai 1945 befreiten, fanden Zehntausende Schuhe auf dem Lagergelände vor

Pläne liegen in der Schublade
 
Romuald Drynko, der Direktor des Museums, sähe in der Neuen Küche gerne ein ambitioniertes Projekt verwirklicht: Pläne für eine internationale Jugendbegegnungsstätte mit Gästehaus, Seminar-, Konferenz- und Ausstellungsräumen liegen in der Schublade. Aber es fehlt das Geld. Einen Kooperationspartner in Deutschland habe man bislang nicht finden können, die Bewilligung von EU-Geldern sei an hohe Eigenmittel gebunden, die man nicht aufbringen könne.
 
Wird nicht kurzfristig gehandelt, ist zu erwarten, dass das Dach der Neuen Küche den Schneelasten im kommenden Winter nicht standhalten wird. Stürzt es ein, wird ein Erhalt des Gebäudes endgültig unwahrscheinlich. Der Ort des Gedenkens und der Mahnung wird dann bald gänzlich verschwunden sein. (YH)


Baracken und das „Tor des Todes“ in der KZ-Gedenkstätte Stutthof



Blick aus der „Neuen Küche" auf das Denkmal des „Judenlagers“ in der Gedenkstätte Stutthof



Die Öfen des Krematoriums in Stutthof reichten nicht aus – nahe dem Lager wurden Tausende von Leichen auf einem Scheiterhaufen verbrannt



In der „Neuen Küche“ waren im Sommer 1944 jüdische Frauen untergebracht. Heute verfällt das Gebäude



Im Sanktuarium werden die sterblichen Überreste polnischer Opfer von Massenerschießungen ausgestellt



Durch das „Tor des Todes“ gingen mehr als 110.000 Menschen – nur etwa 45.000 überlebten



Das Konzentrationslager Stutthof – Blick auf einen Wachturm
Alle Fotos: Christian Ganzer


Online-Flyer Nr. 102  vom 04.07.2007



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