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Krieg und Frieden
Rezension: „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ von Dogan Akhanli
Ein gebrochenes Land
Von Albrecht Kieser

DoganAkhanli. Der 1957 in der Türkei geborene Schriftsteller Dogan Akhanli lebt seit 1992 in Köln und arbeitet beim „Kölner Appel gegen Rassismus“, wo er Veranstaltungen und Kulturprojekte zum Völkermord an den Armeniern initiiert und das Projekt "Erinnerung und Geschichte“ leitet. Der Militärputsch von 1980 in der Türkei zwang ihn in den Untergrund, 1985-87 war er politischer Häftling im Militärgefängnis von Istanbul. Das hier rezensierte Buch ist der dritte Teil seiner Trilogie „Die verschwundenen Meere“ und thematisiert den Völkermord an den Armeniern. Die Trilogie ist eine kritische Bestandsaufnahme der politischen Entwicklung der Türkei in den Jahren, die der Autor während seiner Jugend als Zeitzeuge und politisch Verfolgter erfahren hat. – Die Redaktion

Die Auslöschung der Armenier

Der Roman treibt den Leser durch die Geschichte der Türkei. Er reißt ihn, er packt ihn am Arm und zerrt ihn durch die Jahrzehnte, von dorthin nach dahin, gleich zu Beginn in unwegsame Gegenden, in denen die glorreiche türkische Armee 100.000 Soldaten in einer einzigen Schlacht verloren hat; das war zu Anfang des ersten Weltkrieges, als das zaristische Russland den osmanischen Bündnispartner desdeutschen Kaisers bluten ließ.

Mahnmal für den Völkermord im Abendlicht in Jeriwan
Mahnmal für den Völkermord im Abendlicht in Jeriwan
Foto:Ulla Kux

Dann wirft der Roman den Leser übergangslos in die idyllischen Täler des Tigris, die überquellen von Leichen, deren Wasser sich rot färben, über denen die Geier kreisen. Wenige Monate später war das. Nicht Türken lagen da unten, Armenier starben. Anschließend zwingt der Roman den Leser nach Tiflis, nach Berlin und nach Rom, zehn Jahre sind wohl verstrichen, und macht ihn zum Augenzeugen je eines Mordes. Dann findet sich der Leser in einer wirklichen Idylle, einem blumenblühenden Paradies, in das sich eine Überlebende der Massaker vom Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrem Sohn gerettet hat, der dort aufwächst, um eine Überlebende der Massaker vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu finden und zu lieben.


Lesung bei IKEA
Albrecht Kieser, Übersetzerin Hülya Engin und Dogan Akhanli bei einer Lesung in der Alten Feuerwache.
Foto: Ulla Kux


Wir belauschen abstruse, lächerliche, skandalöse und beängstigend ernsthafte Gespräche des Triumvirats der Jungtürken: Enver Pascha, Cemal Pascha und Talat Pascha beraten unter den Augen der väterlichen deutschen Bündnismacht die Auslöschung der Armenier. Der Armenier, die in dieser Zeit als gute osmanische Staatsbürger auf Reformen drängen, damit ihre vollkommene Gleichberechtigung hergestellt werde.

Zitat:
- Worauf wollen Sie hinaus, fragte Enver Pascha zwinkernd.

- Jede Nation braucht Reisen. Wenn wir von Brüderlichkeit und Gleichheit sprechen, ohne voranzukommen,...

- Ja?...
- Dann müssen wir auch in dieser Sache vorwärts kommen. Schließlich können wir ihre Reformforderungen nicht ständig ignorieren, oder?

- Unmöglich.
- Wir müssen Reformen einleiten.

- Das müssen wir.

- Das müssen gründliche Reformen sein.

- Sie haben Recht.

- So gründlich, dass sie die Angelegenheit mit der Wurzel ausreißen.

Dann wieder Berichte von Gräueltaten, vom Massakrieren der Frauen und der Kinder, vom Sterben in der Hoffnungslosigkeit. Andere Geschichten plötzlich, unvermittelt, von der Rückkehr, nicht weniger hoffnungslos, in eine zerstörte Heimat, die Häuser belegt von den Tätern oder von ganz und gar unschuldigen Nachbarn. Akhanli mildert all die geschilderten Schrecken. Wir befinden uns in keinem Horrorroman. Der Autor versteht es, mit feinem Humor und liebevoller Ironie auch dieses Leben als Leben aufzufächern: etwa das von Dikran, der die Massaker überlebt hat, sein Zuhause sucht und in einer Haschischhöhle vorbeischaut, in der einige Dede, Stammgäste, hocken.

Zitat:
Ich habe noch nie unschuldigere Menschen gesehen als diese Dede, von denen man

sagt, dass sie Heilige sind, ging Dikran durch den Kopf. Die Welt hatte ein nie da gewesenes Gemetzel, nie zuvor gesehene Gräuel erlebt und die Dede wussten nichts davon. Das einzige, was sie erwarteten, war, dass es nicht an Leuten fehlte, die dem Wirt „für drei“ zuriefen und drei Kurusch in die Hand drückten.

Dikran gibt den Kiffern eine großzügige Spende. Und sucht in den nächsten Kneipen weiter nach seinen Angehörigen. Erfolglos.

Eine wilde Fahrt durch die Zeit

Akhanli mutet seinen Lesern eine Kakophonie des Grauens zu, selten der Schönheit, fast nie der Hoffnung, eine wilde Fahrt durch die Zeit und dieGeschehnisse, in der die Orientierung verloren geht. Der Autor erzählt keine durchgehende Geschichte, selbst die Protagonisten, die uns durch das gesamte Buch begleiten, sind alles andere als verlässlich und taugen nicht als Identifikationsobjekte.


1915 nach Syrien deportierte Armenier
1915 nach Syrien deportierte Armenier
Foto: Armin T. Wegener


Ühmet Bey, aus dessen Perspektive viele dieser Geschichten erzählt sind, weil er ein Zeitreisender ist, aber auch ein Verwirrter, ein schuldig Unschuldiger, Zeuge, seltsam Distanzierter bei all dem, was er gesehen hat – auch Ühmet Bey, der den arabisch-osmanischen Märchenerzählern nachempfunden ist, schafft keine Klarheit, ist kein wirklich Weiser, der uns zu seinen Füßen Platz nehmen ließe, uns durch seine Geschichten führen und reifen lassen würde. Akhanli lässt seinen Leser allein. Nicht einmal den Zugang zur Trauer erschließt er denen, die sich seinem Buch aussetzen. Denn die zahlreichen Schilderungen der Gräuel an den Armeniern sind Bildbeschreibungen:

Zitat:
Der Weg wollte nicht enden und der Tod sie nicht in die Arme schließen. Als sie an einem Arbeiterbataillon vorbeizogen, das innerhalb der nächsten Tage standrechtlich erschossen werden würde, suchte die Mutter mit hoffnungslosen Blicken zwischen den steinbrechenden Soldaten nach ihrem in Sarikamis verschollenen Sohn. Die Soldaten des Bataillons bekreuzigten sich und beteten, dass Gott seine verdammten Geschöpfe beschützen möge.

Akhanli ist zwar immer an der Seite der Opfer, weigert sich aber, ihr Sprecher zu sein, weil er kein Opfer war, keines der Opfer von damals. Akhanli ist kein Armenier, er ist Türke, Mitglied der Tätergesellschaft. Er beginge, so sagt uns sein Roman, ein Sakrileg, er machte sich der Anmaßung schuldig, wenn er auf diesen Seiten, im ersten türkischen Roman über den Genozid an den Armeniern, die Tränen und den Schmerz, die Trauer und die Klage der Opfer weinte.

Damit sind nicht nur die Türken gemeint

Der Roman weint nicht. Das offenbart seine Zerrissenheit mehr noch als die gewalttätigen Sprünge durch Zeit und Raum, die er uns zumutet. Er offenbart auf diese Weise die Zerrissenheit und Ausweglosigkeit, in die sich die Türkei begeben hat. In der sie festsitzt. Wenn sie nicht endlich wenigstens die Bildbeschreibungen die nackten Tatsachen, die Orte und die Zeiten der Schuld zur Kenntnis nimmt. Wenn sie nicht endlich ihren Weg zur Empathie mit den Opfern und zur Trauer über die eigenen Gräueltaten findet.

Das macht den Roman groß: weil er uns – und damit sind nicht nur die Türken gemeint, sondern alle anderen Völker oder Staaten auch, die ähnlich gehandelt haben – weil er uns nur den Ausweg lässt, uns selbst dem mühevollen, schmerzlichen Prozess zu unterziehen, in dem wirkliches Mitgefühl mit den Opfern errungen wird. Und auch die Täter müssen ins Rampenlicht, ist Akhanli überzeugt: Die Väter, Onkel, Großväter. Das Eingeständnis ihrer Schuld und die Trauer über diese von den „Eigenen“ begangenen Taten müsse neben dem Mitleid mit ihren Opfern stehen.

Die Türkei versperrt sich immer noch diesem Weg von Empathie und Trauer. Dass Biedermänner, ob sie nun Walser oder Oettinger heißen, diesen Weg in Deutschland gern wieder verbarrikadieren würden, macht das Buch von Akhanli auch hierzulande brandaktuell. Seine nächste Lesung findet am 5. Mai, 20 Uhr, im Café Luzia, Oranienstrasse 34, 10999 Berlin, statt.


Mehr über Dogan Akhanli und seine Bücher erfahren Sie unter http://akhanli.kulturserver-nrw.de/


Albrecht Kiesers Rezension wurde am 24.4. auf WDR 3 / Resonanzen gesendet.

Die Richter














Die Richter des Jüngsten Gerichts“, Roman von Dogan Akhanli. Übersetzung aus dem Türkischen von Hülya Engin. Klagenfurt: Kitab, 2007. 240 S. ISBN 978-3-902005-98-4“, 22 Euro.

Online-Flyer Nr. 93  vom 02.05.2007



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