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Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Eine Chronologie zum Tod von Hermann Heibach – Teil 2
„Siegburg ist eine Botschaft an alle“
Von Klaus Jünschke 

HeibachDie grausame Misshandlung und Ermordung von Hermann Heibach in der Justizvollzugsanstalt Siegburg in der Nacht vom 11. auf den 12. November 2006 durch Mitgefangene hat für ein paar Tage die unheilvollen und skandalösen Zustände in deutschen Jugendstrafanstalten ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Inzwischen ist das kein Thema mehr. Klaus Jünschke hat sich in Büchern, Aufsätzen und in der Praxis mit Jugendkriminalität und Integrationskonzepten befasst. Hier seine Chronologie zu diesem „Fall“ - vorher und nachher. Die Redaktion.
Siegburg
Foto: NRhZ-Archiv

19.11. 2006 DVJJ-Regionalgruppe Nordrhein, Neue Richtervereinigung, Strafrechtsausschuss des Kölner Anwaltsverein e.V. :
„Gerade weil kurzfristige Abhilfe bei den völlig unzulänglichen Bedingungen des Jugendstrafvollzuges unrealistisch ist, müssen die Vorkommnisse eine Mahnung sein, Freiheitsentzug als ultima ratio anzusehen. In dem Maße, wie Alternativen zum Jugendstrafvollzug finanziert und vorgehalten werden, ergeben sich Freiräume dafür, sich den verbleibenden Inhaftierten sorgfältiger zuzuwenden.“

20.11.2006 Der Spiegel
„Tod am Strang. Der Foltertod eines jungen Häftlings in der JVA Siegburg war absehbar: die Justiz hat Gewalttäter im Jugendstrafvollzug nicht mehr im Griff. ‚Der Zustand ist unerträglich’, sagt der Greifswalder Kriminologe Frieder Dünkel, der unlängst ein Gutachten über die Situation der 27 deutschen Jugendstrafanstalten erstellte.“

Jugendknast
Hermann Heibach – Foto nach seinem Tod im KStA
Foto: NRhZ-Archiv


21.11. 2006 Kölnische Rundschau
„NRW beruft Ombudsmann für Häftlinge
Neben personellen Konsequenzen wie der Versetzung des Anstaltsleiters und 330 neuen Vollzugs-Stellen präsentierte Justizministerin Müller-Piepenkötter in Düsseldorf ein ‚erstes Maßnahmepaket’ zur Entlastung der Gefängnisse. Dazu gehören im einzelnen:
- Die leer stehende Abschiebehaftanstalt in Büren soll für 150 zusätzliche Haftplätze umgebaut werden.
- Bereits 2008 sollen weitere 500 Haftplätze im geschlossenen Vollzug in NRW entstehen.
- In der Jugendhaftanstalt Heinsberg werden außerdem 240 neue Haftplätze eingerichtet.
- Eine externe Expertenkommission soll die Ursachen der Gewalt in Jugendanstalten ermitteln. Zudem plant NRW als erstes Bundesland das Institut eines „Ombudsmanns“, an den sich Mitarbeiter und Gefangene bei Missständen vertraulich wenden können.
- Die Dreier- und Vierer-Belegung in Haftzellen wurde bereits in der vergangenen Woche untersagt. Am Wochenende finden verstärkte Kontrollen der Zellen statt. Dafür werden zusätzliche Schichten eingerichtet.“

Ministerin
Foto: NRhZ-Archiv

21.11.2006 Frankfurter Rundschau
„Etwas läuft grundsätzlich schief
Klaus Jünschke: ‚Für alle, die mit wachen Augen beobachten, lag eine solche Tat sozusagen in der Luft.’ Denn Vergewaltigungen, schwerste Schlägereien, Abzockerei, dies alles gehört zum Haftalltag.
So seien weder ausreichend Arbeitsplätze vorhanden noch ausreichend schulische Angebote kritisiert er. ‚Gefängnisbedienstete beklagen, dass die Zahl der Eltern sinkt, die ihre Kinder überhaupt noch besuchen.’ Der hinreichend bekannte Personalnotstand ist für Jünschke nur die eine Seite der Medaille: ‚Worüber nicht geredet wird, ist die Qualität des Personals.’
Ob es heute noch angemessen ist, junge Leute in Zellen unterzubringen, ‚in denen in der Kaiserzeit, in der Weimarer Republik und unter den Nazis Menschen einsaßen’, wagt Jünschke zu bezweifeln.
‚Vor diesem Hintergrund’, so Jünschke, ‚versteht man die Forderung vieler Experten besser, den geschlossenen Vollzug durch den offenen Vollzug für Jugendliche abzulösen.’“

21.11.2006 Neue Rheinische Zeitung Online-Flyer Nr.72
Klaus Jünschke: Tod in Siegburg
„Wenn es ein echtes Interesse an gründlicher Aufklärung und einem wirklichen Neuanfang gäbe, müsste von Seiten des Justizministeriums an die Medien in NRW die Aufforderung gerichtet werden, ihre besten Leute in die Jugendstrafanstalten zu schicken und ein paar Tage mit den Jugendlichen und Heranwachsenden unbeaufsichtigt über alle ihre Probleme zu sprechen. Es ist geradezu typisch für die seit einer Woche geführte Auseinandersetzung um die Haftbedingungen in den Gefängnissen, dass die Gefangenen allenfalls indirekt zu Wort kommen.
Und gerade weil durch das Tötungsdelikt sichtbar wurde, wie desorientiert ein Teil der jugendlichen Insassen der Gefängnisse ist, muss unmissverständlich klargestellt werden, dass diese Jugendlichen nicht JVA-Bediensteten ausgeliefert bleiben dürfen, zu denen sie kein Vertrauen haben.
Wenn das Umfeld und die Umstände der Straftaten von Jugendlichen das Gefängnis ist, in dem sie sich zum Tatzeitpunkt befanden, sollte nichts geäußert werden, was hinter die vor über vierzig Jahren vorgelegte Studie von Erving Goffman zurückfällt. In seinem Klassiker ‚Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen’ kommt er zu dem Schluss, dass der ‚wichtigste Faktor, der einen Patienten prägt, nicht seine Krankheit ist, sondern die Institution, der er ausgeliefert ist.’ Und: ‚Diese ‚Gegenwelten’ zu alltäglichen gesellschaftlichen Welt sind aber in letzter Analyse nur Modelle der Gesellschaft selbst.’
Das Tötungsdelikt sollte andererseits den Blick nicht darauf verstellen, dass ein beachtlicher Teil der Gefangenen direkt von der Straße kommt, aus Milieus, die auf eine Weise von Gewalt und Not geprägt sind, dass einige ihre Verhaftung und das Gefängnis als Erholung erleben. Und dabei geht es nicht nur um die Junkies, die ihre Verhaftung als lebensrettende Maßnahme interpretieren, weil es aufgrund der ignoranten Drogenpolitik keine andere Alternative gab, um dem Tod noch mal von der Schippe zu springen.
Ein russland-deutscher Jugendlicher, der die Haftbedingungen in Kasachstan kennen lernen musste, sagte mir im Interview ‚Knast in Deutschland ist eine Paradies.’ Es gibt Gefangene, die von ihrem Arbeitsentgelt in der Haft ihre Familie - z.B. in Albanien - ernähren. Ich habe von Eltern von Jugendlichen nordafrikanischer Herkunft gehört, dass sie fassungslos waren, als sie hörten, dass ihr inhaftierter Sohn im Gefängnis Arbeit bekommt und Geld verdienen kann. Für sie ist das Luxus pur.
In der Auseinandersetzung um die Tötung des zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilten Jugendlichen, wird zwar die Überbelegung der Strafanstalten beklagt, aber nicht die Gründe dafür diskutiert. Sie sind aber bekannt:
Im Frühjahr 2006 hatte die NRW-Justizministerin Müller-Piepenkötter erklärt, dass zwar in 2005 weniger Menschen zu Haftstrafen als 2004 verurteilt worden sind, aber dies hat nicht zu einem Abbau der Zahl der Gefangenen geführt, weil die Urteile härter geworden sind – es wurden mehr Gefangene zu längeren Strafen verurteilt. Die anderen Gründe für die Überbelegung der Gefängnisse sind die repressive Migrationspolitik und die repressive Drogenpolitik. Menschen mit Migrationshintergrund und drogenabhängige Menschen sind in den Gefängnissen überrepräsentiert.
Tatort bei diesem Tötungsdelikt war eine Zelle. Auch davon gibt es in unserer Gesellschaft keinen Begriff. Ein schwäbisches Sprichwort sagt, dass der Raum der dritte Lehrer ist und zwar nach den anderen Kindern und der Lehrerin bzw. dem Lehrer. In der bisherigen Diskussion um die Jugendstrafvollzugsgesetze wird der Raum – also hier die Zelle - in seiner Bedeutung als ‚Lehrer’ überhaupt nicht reflektiert. Allenfalls hört man Empfehlungen über die Zahl der maximalen Haftplätze in einer JVA oder die Größe von Wohngruppen.“

22.11.2006 General-Anzeiger online
„Bedienstete kritisieren massiv den Führungsstil des Leitungsduos in der JVA Siegburg.
‚Der Mord am Gefangenen H. ist leider auch das tragische Ereignis einer Kette bisheriger massiver Misshandlungen von Gefangen an Mitgefangenen in der JVA Siegburg. Jede der vergangenen Misshandlungen hätte schon den Mord an einem Gefangenen bedeuten können. Sowohl die Leitung der JVA als auch die vorgesetzte Behörde weiß davon.’
Für den Schreiber ist die Ermordung des 20-jährigen auch eine Folge der Machtstrukturen in der JVA und ihrer Leitung, die einerseits ‚entscheidungsschwach’(Neufeind) und anderseits ‚diktatorisch’ (Neufeld) sei.‚In einem von Angst besetzten Arbeitsklima stehen die Bediensteten am unteren Ende und unter ihnen die Gefangenen.’“

22.11.2006 Die Welt
„ In Deutschland fehlen laut Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschland (BSBD) 5000 Einzelzellen und 3.000 Strafvollzugsbeamte. Aktuell sitzen 77.000 Straftäter in deutschen Gefängnissen ein, davon 6.600 im Jugendvollzug.“

23.11.2006 Die Zeit
„Arthur Kreuzer: Subkultur hinter Gittern
Erstens gibt es in allen Gefängnissen der Welt Ansätze von Subkulturen. Das bedeutet: Unter dem Einfluss von Freiheitsentzug, aufgezwungener Gesellschaft, total verwaltetem Alltag, dem Verbot von Geld, Alkohol und heterosexuellen Beziehungen entsteht das Bedürfnis nach Ersatz. Verbote werden unterlaufen. Unter den Gefangenen entwickeln sich Hackordnungen, in denen die Rollen nach eigenen Regeln verteilt werden. Körperlich oder geistig Starke setzen sich gegenüber den Schwachen, Neuen, Jungen durch. Illegale Märkte florieren mit Ersatzwährungen. Fällige Forderungen werden mit Zwangsvollstreckung geahndet. Zwischen den Anführern dieser Subkulturen und Anstaltsmitarbeitern bilden sich gelegentlich Kumpaneien.
Die Wohngruppen können aber nur vor subkultureller Verdichtung bewahrt werden, wenn es genügend Personal gibt. Das hehre Ziel der Erziehung oder Resozialisierung in der Haft lässt sich nicht mit wenig Geld und Personal verwirklichen.“

24.11.2006 Kölner Stadtanzeiger
„Kontrollen in allen Gefängnissen
Vor den Abgeordneten trat die Ministerin die Flucht nach vorne an und kündigte hartes Durchgreifen und Kontrollen in allen Gefängnissen des Landes an.“

25112006
Foto: NRhZ-Archiv

25.11. 2006 Kölner Stadtanzeiger
“Spuren der Gewalt nicht gesehen
Nach dem Foltermord an dem 20-jährigen Häftling Hermann H. in Siegbug müsse auch die Rolle des Arztes in der Justizvollzugsanstalt ‚sorgfältig geprüft’ werden. Dies forderte der Kölner Rechtsanwalt Ulli Rimmel, der die Mutter des Opfers in ihrer Nebenklage vertritt. Der JVA-Mediziner hatte nach seiner Leichenschau festgehalten, es sei keine äußere Gewaltanwendung erkennbar gewesen.


BuchKlaus Jünschke arbeitet zusammen mit Christiane Ensslin und Jörg Hauenstein an dem Buch „Pop Shop – Gespräche mit Jugendlichen in Haft“, das im April im konkret-Verlag erscheint:
240 Seiten, gebunden mit zahlreichen Fotos, 16 Euro, 28 SFr., ISBN 978-3-89458-254-8


Online-Flyer Nr. 88  vom 28.03.2007



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