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Literatur
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ - Kapitel XIV
Niemandsland
Von Wolfgang Bittner

Der Roman führt zurück in die achtziger Jahre der Bundesrepublik Deutschland. Der Ich-Erzähler, ein Universitätsdozent, gerät in eine Sinnkrise und Depression, aus der er sich durch das Erfassen seiner eigenen Geschichte zu befreien versucht. Er hat sich einen Standort geschaffen, doch die scheinbare Geborgenheit wird nach und nach in Frage gestellt. Das Gefühl der Sinnlosigkeit lähmt und läßt zugleich ahnen, daß die Ursache der Depression ein tiefes unterbewußtes Entsetzen ist. Fast zwanghaft spürt der Erzähler diesem unbestimmten Gefühl nach, nähert sich dem Ursprung seiner Angst. Ein Mosaik entsteht. Lesen Sie Kapitel XIV "Die Justiz ist schwarz".
Meine Angst, nicht so gut zu sein, wie es von mir erwartet werden könnte. Das Bedürfnis, Lebenssachverhalte zu erfassen und zu durchdringen, Menschen in verzweifelten oder gar ausweglosen Situationen zu helfen. Die Abnei­gung gegen diese Art von Ritualen, die zumeist dazu dienen, jemanden einzuschüchtern; der wachsende Wi­derwille gegen Zeremonien, die den ohnehin Unterlege­nen noch hilfloser machen, den Überlegenen noch domi­nierender. Die Vorstellung, selber zu unterliegen, solchen Autoritäten ausgeliefert zu sein, und gleichzeitig der Wunsch, nicht anzuecken, mir nicht durch unbedachte Äußerungen und Handlungen den Unwillen solcher Au­toritäten zuzuziehen, von denen ich abhängig bin oder auf deren Wohlwollen ich noch angewiesen sein könnte. Dieses Lavieren, manchmal sogar das Gefühl, sich zu prostituieren und daraus folgend der zunehmende Verlust an Selbstachtung. Die Furcht, sich dadurch in eine Rich­tung zu verändern, die man selber nicht billigt. Dann diese Sprachlosigkeit. Und nachts die Träume, dunkel und bedrohlich. Aber nach außen hin war alles geordnet und eigentlich erfreulich.
Morgens ging ich also ins Gericht. Es roch nach Bohner­wachs und Putzmitteln, wenigstens schien es mir immer so. Zugleich meinte ich in den Gängen den Angstschweiß der Rechtsuchenden wahrzunehmen, die auf ihre Ver­handlung warteten. Mich könne diese Atmosphäre kalt lassen, sagte ich mir, ich gehörte ja jetzt zu den Amtsperso­nen, die zu bestimmen hatten, mir konnte nichts passieren. Diese Selbstbeschwich-tigung gelang vorübergehend. Nur manchmal tauchten in Sekundenschnelle gleich einem Film die Bilder von Schul  und Behördenfluren vor mei­nem inneren Auge auf, und mit ihnen kam regelmäßig dieses furchtbare, Schweißausbrüche hervorrufende Ge­fühl des Ausgeliefertseins an irgendwelche unberechenba­ren Institutionen.
Die ständig wiederkehrende Frage, immer noch: Was war oder ist Ihr Vater von Beruf? Durchleuchtungsversu­che, Demütigungen. Der Gedanke etwa, die kürzeste Ver­bindung zwischen zwei Punkten könne unmöglich eine Gerade sein. Das Gefühl von Haß. Gründungsjahr des ersten Amsterdamer Zuchthauses? »Wissen Sie nicht?!« La défense sociale? »Kennen Sie nicht?!« Der Körper ist bedeckt von kaltem, klebrigem Schweiß. Unter den Ach­seln rinnt es. Der Geruch von Reinigungsmitteln, Körper­ausdünstungen, Tränen, Blut und Sperma. Wie kann ich mich verständlich machen? Und wozu? Neben sich ste­hen, zuschauen. Aber das bedeutet: Bewußtseinsspaltung, angeblich eine Geisteskrankheit.
Der Richter, dem ich als Referendar zugewiesen war, behandelte mich mit der freundlichen Herablassung, die ältere, erfahrene Juristen ihren jüngeren Kollegen schuldig zu sein glauben, falls sie von deren Qualifikation über­zeugt sind. Ein hagerer älterer Mann mit grauem Haar und Hornbrille, Mitglied des Deutschen Alpenvereins. In der schwarzen Robe, das Barett auf dem Kopf (das zu seinem Leidwesen abgeschafft werden sollte), sah er sehr würdig aus; ohne Robe, im etwas zu weiten grauen Anzug, wirkte er eher unscheinbar. Er litt unter Waschzwang; etwa zehnmal am Tag wusch er sich die Hände. Auf seinem Schreibtisch lag als Briefbeschwerer ein faust­großer ungeschliffener Bergkristall, den er bei Vernehmungen in seiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter manchmal in der Hand wog. Daß er damit die Beschul­digten beunruhigte, schien ihm nie aufgefallen zu sein. »Herr Verteidiger«, unterbrach er mit leiser aber deutli­cher Stimme einen als links verschrieenen jungen Rechtsanwalt, »Sie plädieren jetzt schon seit zehn Minuten.« Um sich über die Persönlichkeit eines Angeklagten nähe­ren Aufschluß zu verschaffen, stellte er gern die Fragen: »Haben Sie gedient? Letzter Dienstgrad? Aus-zeichnun­gen?« Während der Plädoyers des Staatsanwalts und des Verteidigers schrieb er bereits den Urteilstenor auf die Innenseite des Aktendeckels. Mißfiel ihm etwas an den Angeklagten, waren seine Urteile, je nach dem Grad des Mißfallens, gesalzen bis drastisch. Im Beratungszimmer wusch er sich dann gründlich die Hände.
Er wirkte nicht ungebildet. Fast täglich ergaben sich neue Anknüpfungspunkte für Gespräche abseits der ei­gentlichen juristischen Arbeit, denn er betrieb, wie er sagte, philosophische und theologische Studien. Überra­schenderweise kannte er sowohl die Schriften von Swe­denborg als auch die Hauptwerke Kants, Schlegels, Fich­tes, Schellings und Nietzsches. Darüber hinaus bewies er durch häufige Zitate bei jeder Gelegenheit seine Bibelfe­stigkeit. »Sie gehören zu den wenigen«, sagte er eines Tages in der ihm eigenen Art, »die sich strebend um Auf­schluß über die Grundfragen des menschlichen Seins be­mühen, das habe ich gleich gemerkt, und deswegen will ich Ihnen etwas anvertrauen.« Seiner Ankündigung folgte das Bekenntnis zu einer mir bis dahin völlig unbekannten sogenannten Geistlehre. Dabei, so betonte er, gehe es nicht um den Geist in intellektuellem Sinne, sondern um die Vergeistigung als ein unablässiges ernstes Streben nach innerer Vervollkommnung.
Der Richter und die Geistlehre. Oder auch: Die Krähe und die Theognosie - so kam es mir vor. Eine erstaunliche Kombination. Verblüfft folgte ich seinen Ausführungen, wonach das ganze Weltall von Geistern bevölkert werde, die nur zu einem geringen Teil als körperliche Wesen in Erscheinung träten. »Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Menschen und diesen Geistern gibt es nicht«, erklärte er mir voller Überzeugung, die Körperlosigkeit ist lediglich eine andere Daseinsphase, und das Jenseits ist kein anderer Ort, sondern nur ein anderer Zustand.«
Ich muß zugeben, daß er mir, wenn wir uns so unter­hielten, nicht unsympathisch war. Während er sprach, nah­men seine hinter den Brillengläsern zurückweichenden Augen einen lebhaften Ausdruck an, und mit den Bewe­gungen seiner schmalen Hände schien er jeden Satz unter­streichen zu wollen. Ich hörte ihm aufmerksam zu, insge­heim immer an Krähen denkend, wo er von Geistern sprach. Es war wie verhext, ich vermochte die Verschrän­kungen in meinem Kopf beim besten Willen nicht aufzu­heben. Andererseits gewannen seine sophistischen Vorträ­ge dadurch für mich außerordentlich an Brillanz, und diesen Erfolg spürte er, freilich ohne die eigentliche Ursa­che zu kennen. Denn ich hütete mich, meine Gedanken zur Krähenlehre zu äußern. »Erstaunlich«, sagte ich, als er das erstemal damit begann, »als Junge habe ich einmal davon gehört, aber die Zusammenhänge damals nicht begreifen können.«
»Sehen Sie«, fuhr er eifrig fort, »das ist alles sehr einfach: Wir Menschen sind geschaffen von Gott, und unser höch­stes Ziel ist die Rückkehr zu Gott. Da wir nun als Geist­wesen mit freiem Willen, Erkenntnis  und Liebesfähigkeit begabt sind, hängt es allein von uns ab, wielange wir in unserem glücklosen Zustand dieser Entfernung zu Gott verharren. Entwickeln wir uns in diesem und anderen Leben zu einer immer vollkommneren Persönlichkeit, steigen wir damit auch als Geist von Stufe zu Stufe auf, schließlich bis in die höchsten Sphären des Glanzes und der Herrlichkeit.«
Eine seltsam faszinierende Konstruktion und Heilsleh­re. Sie hinderte ihren Anhänger keineswegs daran, sich in seinen Verhandlungen geradezu teuflisch zu benehmen. »Eine ewige Verdammnis oder einen Teufel gibt es nicht«, erklärte er mir, »nur das Absinken in eine so große Entfer­nung von Gott, daß wir uns vor Verzweiflung in der Hölle fühlen.« Kurz darauf fuhr er einen angeklagten Bauarbeiter an, der aus Verlegenheit vor dem hohen Gericht die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte: »Neh­men Sie gefälligst die Pfoten aus der Tasche und benehmen Sie sich wie ein gesitteter Mensch, wenn Sie schon meinen, hier im Pullover erscheinen zu können.«
Also doch eine Krähenlehre, das wurde immer deutli­cher. Ich zwang mir während der Verhandlungen einen stoischen Gesichtsausdruck ab, der nach außen hin neu­trale Gelassenheit auszudrücken hatte, überprüft zu Hause vor dem Spiegel, morgens beim Binden der Kra­watte. >Nur nicht aus der Rolle fallen, lieber schweigen<, sagte ich mir jedesmal aufs neue. Dabei half mir die Ein­nahme von dämpfenden Psychopharmaka. Sich in einer schwarzen Robe wie zum Kaspertheater verkleidet vorzu­kommen, und daraus die Konsequenz zu ziehen, das ist zweierlei. In den Beratungen beschränkte ich mich auf juristische Argumentationen, mit denen sich manches doch noch hinbiegen ließ. Auch ich begann, mir mehrmals am Tag die Hände zu waschen. Nicht selten geplagt von körperlichem Unwohlsein, saß ich ansonsten neben dem Richter zu Gericht.

Eines Tages berichtete mein Ausbilder von einer Wochen­endfahrt nach Braunschweig zur Geburtstagsfeier eines Juristenkollegen. »Ein überragender Geist und praktizie­render Christ«, sagte er voller Hochachtung, »der es, was Bibelkenntnisse angeht, mit jedem Theologen aufnehmen kann.« Dr. L. oder auch Walter. Und noch ein weiterer Name fiel, der eines offenbar hohen Richters, »solche aufrechten Leute können Sie heute mit der Lupe suchen.« Dr. M. oder auch Hans. Ich merkte mir die beiden Na­men.
Am folgenden Tag saß ich beim Mittagessen in der Kantine zufällig einem jungen Assessor aus Braunschweig gegenüber, den ich beiläufig nach Dr. L. und Dr. M. fragte. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß uns niemand zuhörte, erzählte er mir mit gedämpfter Stimme und im­mer wieder besorgt um sich blickend, eine Geschichte, die ich seither nicht mehr vergessen habe. Sie begann in den letzten Kriegsmonaten und reichte bis in die Gegenwart, belegt durch umfangreiche Aktenvorgänge.
Braunschweig, Oktober 1944, nach einem schweren Bom­benangriff. Brennende, qualmende und zusammenge­stürzte Häuser, einige Leichen werden abtransportiert. Eine junge Arbeiterin, die selber am Vortag zum dritten­mal ausgebombt worden war, hilft nachts nach der Ent­warnung bei Aufräumungsarbeiten in den Nachbarhäu­sern. Überall liegen Einrichtungsgegenstände, Kleidungs­stücke, Haushaltsgeräte, auseinandergebrochene Schrän­ke und Koffer herum. »Uns hat es gestern nacht erwischt«, sagt Erna W. zu einer alten Frau und hilft ihr, den Inhalt einer Kommode zusammenzusuchen; es beginnt bereits zu dämmern. In einer Badewanne bringen sie alles hinun­ter in den Keller. Das Mädchen, es ist neunzehn Jahre alt, steigt anschließend durch die Trümmer einer Wohnung auf die Straße, und dabei bemerkt es mehrere unverschlos­sene Koffer. Erna W. entnimmt ihnen ein paar Kleidungs­stücke und ein versilbertes Kästchen mit billigem Schmuck. >Das braucht dort sowieso keiner mehr<, denkt sie auf dem Weg zurück zu ihrer Mutter in die Notunter­kunft. Hier legt sie sich noch zwei Stunden schlafen, bis es Zeit wird, zur Arbeit in eine Rüstungsfabrik zu gehen.
Vier Tage später geht die Geschichte damit weiter, daß Erna W. von der Polizei verhaftet wird. Sie gibt sofort alles zu. Kleidungsstücke und Schmuck werden sicherge­stellt, der Fall liegt klar.
Erwähnenswert ist aber in diesem Zusammenhang vielleicht doch noch, daß Erna W. vaterlos aufgewachsen und zeitweise in Heimerziehung war. Sie ist ein geeignetes Opfer. Schon am nächsten Tag findet das Verfahren wegen Plünderei vor einem Sondergericht statt, das in der Unter­suchungshaftanstalt tagt, weil das Landgerichtsgebäude zerbombt ist. Das Gericht verhängt nach kurzer Verhand­lung die Todesstrafe, die einen Monat später durch Ent­hauptung des Mädchens vollstreckt wird (ein Gnadengesuch wird abgelehnt). Der vorsitzende Richter des Sonder­gerichts heißt Dr. Walter L.
Das war nur der erste Teil dieser Geschichte. Denn bald nach dem Krieg bekleidet Dr. L. schon wieder ein hohes Amt: als Oberlandes-kirchenrat in der braunschwei­gischen evangelisch lutherischen Landeskirche. Und nicht weit entfernt von seiner neuen Dienststelle bemüht sich die Mutter des hingerichteten Mädchens um deren Rehabilitierung, die jedoch unter dem Vorsitz des bereits erwähnten Dr. Hans M. mehrmals abgelehnt wird. Das ist leicht erklärlich.
Dr. M. gehört nämlich auch zu den Leuten, denen ein Menschenleben - es sei denn, es handelte sich um ihr eigenes - nicht viel gilt, und die sich subjektiv immer im Recht befinden, objektiv sowieso. Er begann seine Juri­stenkarriere im Jahre 1932 als Amtsgerichtsrat in einer Kleinstadt. 1935 wurde er in den Heeresjustizdienst einge­stellt und zum Kriegsgerichtsrat ernannt. Bis 1945 stieg er dann ständig auf, zum »Fliegenden Armeerichter«, zum Ministerialrat im Reichsjustizministerium, zum Oberstrichter, zuletzt noch 1944 in das zweithöchste Be­för-derungsamt als Oberstkriegsgerichtsrat. Damit aber nicht genug. Schon im Herbst 1945 ist Dr. M. - weil Recht angeblich immer Recht bleibt - wieder Richter in Braun­schweig. Er wird kurz darauf zum Oberlandesgerichtsrat und 1950 zum Senatspräsidenten des Strafsenats am Braunschweiger Oberlandesgericht befördert, wo er nach dem Verbot der KPD ab 1956 mit Staatsschutzsachen und Prozessen gegen Kommunisten befaßt ist. Vor seinem ho­hen Richterstuhl erscheinen jetzt unter anderem kommu­nistische Angeklagte, die schon vor 1945 vor solchen Stühlen standen; sie werden zum Teil zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, und zwar lediglich wegen ihrer politischen Überzeugung. Später tritt Dr. M. dann aus »ethisch mo­ralischen Gründen« öffentlich gegen eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts ein, vor allem gegen die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen. Und als er während einer öffentlichen Diskussion auf seine nationalsozialistische Vergangenheit angesprochen wird, bezeichnet er seinen Wechsel zur Wehrmachtsjustiz im Jahre 1935 als einen Akt der »inneren Emigration«.
Aber Dr. M. war natürlich kein Einzelfall. Ich infor­mierte mich damals aus jedermann zugänglichen Quellen und erfuhr nach und nach, überrascht und nicht ohne Erschütterung: Der Verfasser eines Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen wurde nach dem Krieg Staats­sekretär im Bundeskanzleramt; ein Befürworter der Eu­thanasie wurde Landesjustizminister; ein KZ Arzt, an dem vorbei man Tausende von Opfern nackt in die Gas­kammern trieb, wurde vom Bundesgerichtshof freige­sprochen; ein Gestapo Chef wurde Unternehmensproku­rist; ein anderer Gestapo Chef wurde Kriminal­hauptkommissar; ein SS Hauptsturmführer, der Lidice zerstört hatte, wurde Kriminalrat im Bundeskriminalamt; ein anderer SS Hauptsturmführer, seinerzeit »Schlächter« genannt, wurde Geheimdienstagent bei den Amerika­nern; zahlreiche weitere SS Führer wurden leitende Be­amte des Bundesnachrichtendienstes; ein Oberregie­rungsrat im Reichspropagandaministerium wurde Bundesrichter; ein Polizeichef wurde ebenfalls Bundes­richter; ein Ministerialrat aus dem Reichsinnenministe­rium wurde Senatspräsident; ein Marinekriegsrichter wurde Ministerpräsident; ein Senatspräsident des Volksge­richtshofs wurde Pensionär und so weiter.
Wie einfach es ist, zu verurteilen, und wie schwer, zu begreifen. Wo haben wir uns jemals erprobt, daß wir unserer Handlungen sicher sein könnten. Auch ich, das merke ich immer wieder, neige zu Verurteilungen. Zum Beispiel habe ich nie begreifen können, wie diese vielen Todesurteile in der Zeit des Nationalsozialismus zustande kommen konnten. Erst recht habe ich nie begreifen kön­nen, daß keiner dieser schwer belasteten Blutrichter je­mals verurteilt worden ist.
In einem in der DDR herausgekommenen »Braun­buch« las ich die Namen der Juristen, Beamten, Offiziere, Wissenschaftler und Wirtschaftsbosse, die vor 1945 und wieder danach in der Bundesrepublik Deutschland in Amt und Würden standen; Listen, die ein ganzes Buch füllen. Ein Bekannter hatte es von einem Verwandtenbe­such mitgebracht, das heißt geschmuggelt. Denn nach An­sicht sogenannter staatstragender Kräfte können manche Bücher staatsgefährdend und damit »verfassungswidrig« sein; sie werden amtlich gelesen, gewissenhaft aufgelistet und verboten, sie dürfen nicht eingeführt werden. »Verbringungsverbot« wird so etwas im Amtsdeutsch genannt, und kaum ein Bürger weiß überhaupt davon. Jedenfalls entnahm ich diesem Buch, daß mein Ausbilder bis 1945 Reichskriegsgerichtsrat bei einer lnfanteriedivision war. Auch er hatte Todesurteile wegen politischer Witze, Fah­nenflucht und Feigheit vor dem Feind noch bei Kriegsende unterschrieben und konnte seine Juristenkarriere nach 1945 problemlos fortsetzen.
Manchmal sehe ich den Richter, der das Todesurteil des Pfarrers Dietrich Bonhoeffer noch im April 1945 voll­strecken ließ, auf einem Fahrrad über die zerbombte Landstraße nach Flossenbürg ins KZ fahren. Die öffentli­chen Verkehrsmittel waren schon nicht mehr in Betrieb. Aber das Todesurteil durfte ohne die Unterschrift des Richters nicht vollstreckt werden, deshalb mühte er sich auf dem Fahrrad ab, so daß Dietrich Bonhoeffer doch noch gehenkt werden konnte. Wenige Stunden später wa­ren schon die Amerikaner da. Und ich würde gern wissen wollen, was aus diesem Richter geworden ist, dem seine Amtpflicht allem vorging. Wahrscheinlich hat auch er bald nach Kriegsende wieder irgendwo trocken und ohne Gewissensbisse in einem Amt gesessen.
Träume voller Entsetzen, als befänden wir uns in einem Roman von Kafka oder Edgar Allan Poe, ja noch viel schlimmer. Bis wir auf einmal merken, daß wir wach sind und jemand, der eine schwarze Robe trägt, von seinem Podest herabwettert. Aber dieses ständige Zwielicht!
Eine angeklagte Verkäuferin wird, nachdem sie zusam­mengebrochen war, auf einer Rotekreuzliege wieder her­eingetragen. Ein angeklagter Gewalttäter geht auf das Gericht los, weil er sich beleidigt fühlt, und wird von zwei Justizbeamten mit Knebelketten gefesselt. Durch entsprechende Verteilung der Beweislast gerät ein Kläger in Beweisnot und verliert seinen Prozeß.
Ein vorsitzender Richter sagt mit schneidender Stimme: »Errare humanum est.« Ein Geistlicher, ebenfalls in schwarzem Talar, antwortet in liturgischem Sprechgesang: »Ad maiorem Dei gloriam.« Ein ehemaliger KZ Wärter wird verhandlungsunfähig erklärt. Ein Student tritt mit Schiebermütze und in langen Unterhosen vor den Richtertisch. Ich lache und werde streng gemaßregelt.
Wie ist das alles auszuhalten? Dem langjährigen Freund und Lebensgefährten der Mutter von Erna W. wird schließlich vorgeworfen, er habe schon 1944 im Ver­dacht der Zuhälterei gestanden; außerdem dürfte er Frau W. nicht vor Gericht unterstützen, weil er kein Anwalt sei. Gegen ihn wird von der Staatsanwaltschaft ein Ver­fahren nach dem Rechtsberatungsmißbrauchgesetz einge­leitet. Nach einer unbedachten Äußerung wird er wegen Richterbeleidigung verurteilt.
Mir fällt noch die Begründung der Staatsanwaltschaft aus dem Jahre 1944 ein, mit der die Vollstreckung des Todesurteils gegen Erna W. befürwortet wurde: »Die W. ist mit einer Arbeiterin befreundet, die ebenso wie die Mutter der Freundin wegen Abtreibung vorbestraft wor­den ist; deshalb verdient die Angeklagte, trotz ihrer Ju­gend, keine Nachsicht.« In dem Beschluß des Oberlandes­gerichts, mit dem die Rehabilitierung von Erna W. abge­lehnt wird, heißt es: das Todesurteil von 1944 sei durchaus gerecht und unter den damaligen Umständen sogar zwin­gend geboten gewesen; auch sei die »Volksschädlings Ver­ordnung« mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen aller zi­vilisierten Länder vereinbar.
Ich stelle mir vor, wie die neunzehnjährige Erna W. an einem trüben Novembermorgen des Jahres 1944 im Richt­haus des Strafgefängnisses Wolfenbüttel nach vierwöchi­ger Haft hingerichtet wird. Wie schon erwähnt, wurde sie geköpft. Und mir wird endgültig klar, daß unsere Phantasie nur ein blasses Abbild dessen ist, was uns als Realität umgibt.
Dann sehe ich einen ganzseitigen Nachruf des Landes­kirchenamtes zum Tode von Dr. Walter L., der selbstver­ständlich »natürlich« war, und lese mit heißem Kopf: »Sein Gedenken wird uns allen ein gesegnetes bleiben.«
Dann erfahre ich, daß der Frankfurter Generalstaats­anwalt Fritz Bauer, einer der wenigen von den Nazis verfolgten und deswegen emigrierten Juristen, plötzlich und unerwartet verstorben ist. Er wurde tot in seiner Badewanne gefunden. Bauer hatte gegen die ranghohen Teilnehmer einer juristischen Geheimkonferenz von 1941 im »Haus der Flieger« in Berlin, wo die Zustimmung zur heimlichen Tötung von etwa 150.000 Geisteskranken ge­geben wurde, trotz stärkster Widerstände ein Strafverfol­gungsverfahren wegen Beihilfe zum Mord eingeleitet. Kurz nach Bauers Tod beantragt die Staatsanwaltschaft Frankfurt von sich aus die Einstellung dieses Verfahrens, über das die Medien nie berichteten.
Eine Ansammlung von Merkwürdigkeiten, skandalö­sen Ereignissen und Entsetzlichkeiten. Blutrünstige Ge­schichten, die sich so und nicht anders ereignet haben, die noch in die Gegenwart fortwirken, sich zum Teil immer noch ereignen.
Damals entschloß ich mich, nicht Jurist zu werden, sondern an die Universität zurückzugehen, um mein Phi­losophiestudium fortzusetzen.

Wolfgang Bittner-Niemandsland

Dieses Buch erschien erstmals 1992 im Forum Verlag Leipzig, im September 2000 neu aufgelegt im Allitera Verlag, München









Der Autor

Wolfgang BittnerWolfgang Bittner, geboren 1941 in Gleiwitz, lebt als Schriftsteller in Köln. Er studierte Jura, Soziologie und Philosophie und promovierte 1972 zum Dr. jur. Bis 1974 ging er verschiedenen Tätigkeiten nach, u. a. als Fürsorgeangestellter, Verwaltungsbeamter und Rechtsanwalt. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko und Kanada. Er hat mehr als 50 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder geschrieben, darunter die Romane »Marmelsteins Verwandlung«, »Die Fährte des Grauen Bären«, »Die Lachsfischer vom Yukon« und »Narrengold« sowie das Sachbuch »Beruf: Schriftsteller«. 
www.wolfgangbittner.de


Online-Flyer Nr. 62  vom 19.09.2006



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